Die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger hat einen guten Lauf. Sie steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, zugleich ist sie für den Schweizer Buchpreis nominiert. Und: Zum zweiten Mal in Folge führt sie die SRF-Bestenliste an. Hier die von der Jury gekürten Lese-Highlights im Countdown.
5. Martina Clavadetscher: «Die Schrecken der anderen» (25 Punkte)
Der Roman beginnt wie eine Kriminalgeschichte: Im zugefrorenen «Ödwilersee» wird eine Leiche gefunden. Doch Martina Clavadetscher belässt es nicht bei einem einzigen Handlungsstrang. Es gibt mehrere, und so geht es beispielsweise auch um den Verein der «Herren mit Zylinder», der einen gesellschaftlichen Umsturz plant. Clavadetscher mischt historische Fakten mit Fiktion und holt unliebsame Erinnerungen an die Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus hervor.
Martina Clavadetscher erzählt nicht nur Geschichten, sondern auch Geschichte – und das mit einem Personal, das alles andere als blutleer ist und auf verschiedenen Ebenen Spannungen erzeugt. All das geschrieben in einer Sprache, die dem Roman einen unverwechselbaren Soundtrack verleiht.
4. Leon Engler: «Botanik des Wahnsinns» (27 Punkte)
Ein junger Mann blickt auf die Lebensläufe in seiner Familie zurück. Was er sieht, ist ein Stammbaum des Wahnsinns. Die Grossmutter: bipolar, zwölf Suizidversuche. Der Grossvater: ständig in der Psychiatrie. Die Mutter: Alkoholikerin. Der Vater: depressiv. Wie schafft man es, mit diesem Background nicht selbst verrückt zu werden, zumal viele psychische Krankheiten als erblich gelten? Der Erzähler fürchtet einen Familienfluch. Seine Angst führt ihn schliesslich selbst in die Psychiatrie, allerdings nicht als Patienten, sondern als Therapeuten.
Leon Engler blickt auf psychische Krankheiten – in der Familie seines Protagonisten, wie ganz generell in unserer Gesellschaft. Seine Sprache: zärtlich und brutal zugleich. Dieses Buch ist ein stilistisches Glanzstück.
3. Ayelet Gundar-Goshen: «Ungebetene Gäste» (29 Punkte)
Naomi, eine junge Mutter, lebt mit ihrem einjährigen Sohn in Tel Aviv. Ein Hammer fällt vom Balkon und tötet einen Jugendlichen. Naomi weiss, dass ihr Sohn den Hammer hinuntergeworfen hat, doch der Verdacht fällt auf den arabischen Handwerker, der zu diesem Zeitpunkt bei ihr zu Hause war. Ein packendes Psychodrama über Schuld, Rache und die Flucht vor Verantwortung, das die dunklen Seiten des Menschseins beleuchtet.
Der neue Roman der israelischen Therapeutin Ayelet Gundar-Goshen liest sich wie ein Psychothriller. Es geht um tiefe Abgründe: zwischen Juden und Arabern, aber auch zwischen Eheleuten.
2. Nelio Biedermann: «Lázár» (36 Punkte)
Der erst 22-jährige Schweizer Autor Nelio Biedermann legt mit «Lázár» bereits seinen zweiten Roman vor. Er erzählt eine Familiensaga: die Geschichte eines ungarischen Adelsgeschlechts. Auf den Alltag im edlen Waldschloss folgt die soziale Mittellosigkeit bis hin zur Flucht in die Schweiz. Lesend begleitet man mehrere Generationen aus der Familie Lázár durch das politisch unstete 20. Jahrhundert. Die Figuren hüten Geheimnisse, glühen vor Sehnsucht, verzweifeln über die Politik, lieben und hassen und hadern mit der ewigen Frage, wie man leben soll.
Mit ‹Lázár› zeigt sich Nelio Biedermann als ein junger Schriftsteller, der seinen Figuren Rätsel zugesteht, die er womöglich selbst nicht einmal begreift, doch die letztlich den Zauber von grosser Literatur ausmachen.
1. Dorothee Elmiger: «Die Holländerinnen» (47 Punkte)
Dorothee Elmiger hat sich einen Kriminalfall vorgenommen, und zwar einen, der sich tatsächlich zugetragen hat: 2014 sind zwei niederländische Touristinnen im Urwald Panamas verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Elmiger nun lässt eine Theatergruppe in den Urwald reisen, um den Fall zu rekonstruieren. Vollständig in der indirekten Rede verfasst und mit einer Vielzahl an Erzählebenen, wird dieser Roman selbst zum Sprachdschungel. Und überall lauert das Grauen.
Dicht und doch leichtfüssig erzählt und inszeniert Dorothee Elmigers Roman – und führt dabei das Erzählen und das Inszenieren vor.