Zum Inhalt springen

Kultur-Jahresrückblick 2022 Jazz-Alben 2022: Volltreffer und ein Fehlschlag

Unser Jazz-Kenner präsentiert seine Alben-Favoriten 2022 – und eine Überraschung, die mondsüchtig macht.

Die Höhepunkte des Jahres

«Idantitâ» von Florian Favre: Tradition lebt nur weiter, wenn man sie verändert. Das hat sich der Fribourger Pianist Florian Favre zu Herzen genommen.

Im Lockdown hatte er Zeit darüber nachzudenken, woher er als Kind der 90er-Jahre kommt. Aus dem Techno, dem Hip-Hop? In der Familie wurde vor allem gesungen, zum Beispiel «Le vieux chalet», oder «Adyu mon bi payi», Fribourger Chor-Tradition.

Dort hatte Florian Favre seinen Spielplatz: Liebevoll, radikal und allein am Flügel setzte er sich damit auseinander, zerpflückte die einzelnen Motive und garnierte sie mit allerlei Beats und Präparationen.

Herausgekommen ist ein frischer Blick auf die eigene «Idantitâ». Oder wie Favre selbst sagt: Gegen die eigene Identität kann man nichts machen. Die Frage ist, was macht man damit? Die Antwort überzeugt, die Tradition lebt weiter.

«Ghost Song» von Cécile McLorin Salvant: Sie ist längst keine Newcomerin mehr. Eher ein Jazz-Star unserer Zeit, eine Sängerin, die sich auch mit ihren Zeichnungen profiliert, mehrere Grammys abgeräumt und viel beachtete Alben herausgegeben hat.

Sie hält ihre Flughöhe scheinbar mühelos, auch mit dem aktuellen Album «Ghost Song». Dieses ist eklektisch im besten Sinne: Unbekümmert vermischt es Genres. Eigene Songs stehen neben einem Lied von Pop-Rock-Star Sting oder neben «Wuthering Heights» der Singer-Songwriterin Kate Bush.

Cécile McLorin Salvant kennt den Song, seit sie 16 Jahre alt ist. Ihre Version hat Gänsehaut-Potential und ist nur eins von einem Dutzend Juwelen auf «Ghost Song». Ein Muss auf der Playlist von 2022.

Die Überraschung des Jahres

«Moon Trail» von Buechi, Hellmüller, Jerjen: Die Sängerin Sarah Buechi ist eine Wundertüte. Nach einigen tollen Quartett-Alben nahm sie im ersten Coronaherbst mit grossem Orchester «The Paintress» auf. Kaum haben wir uns an dieser neuen Farbpalette erfreut, erscheint mit «Moon Trail» eine neue Klangwelt, dieses Mal im Trio mit Bass und Gitarre.

Die grösste Überraschung ist dabei, was Sarah Buechi mit dem Material anstellt: Der Standard «I Thought About You» führt durch schmerzhafte Zerrissenheit und endet am Schluss doch versöhnlich.

«Moon River» umtänzelt die existentielle Erfahrung der eigenen Vergänglichkeit, und «Le vieux chalet» (Florian Favre lässt grüssen) bekommt nochmals eine ganz andere Färbung. «Moon Trail» macht mondsüchtig.

Der Flop des Jahres

«HOME.S.» von Esbjörn Svenson: ACT veröffentlicht ein Solo-Album des schwedischen Jazz-Stars Esbjörn Svenson, 14 Jahre nach dessen Unfalltod: Das kann ja nichts Schlechtes sein, oder?

Die Witwe von Esbjörn Svenson war verständlicherweise tief berührt, als sie auf einer Festplatte ihres Mannes die Piano-Solo-Aufnahmen entdeckte. Doch in einem Interview war sie sich «gar nicht sicher, ob er diese Musik überhaupt veröffentlichen wollte.»

Dagegen spricht: Auch wenn das Home-Recording nicht schlecht ist, so klingt der Flügel doch eher dünn. Viel wichtiger: Die neun Solo-Stücke sind allzu monoton, die Ideen unausgegoren. Mit wenigen Ausnahmen ist das die Momentaufnahme eines kreativen Prozesses, aber keine fertige Musik.

Die Besten des Jahres – unser Kulturrückblick 2022

Box aufklappen Box zuklappen

Radio SRF 3, 16.12.2022, 13:10 Uhr.

Meistgelesene Artikel