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Wiedereinstieg in Atomenergie SVP und FDP befürchten Stromlücke ohne Kernenergie

Nach dem Ja zum Klimaschutz-Gesetz ist der Weg zum Netto-Null-Ziel bis 2050 noch lange nicht klar. Denn SVP und FDP befürchten ohne Kernenergie eine Stromlücke und wollen die Laufzeiten der bestehenden Atomkraftwerke verlängern. Können die Klimaziele ohne Kernkraft nicht erreicht werden?

Das ist die Ausgangslage: In der Schweiz sind die AKW Beznau 1 und 2, Gösgen und Leibstadt in Betrieb. Für diese gibt es keine vorgegebenen Laufzeiten. Solange die AKW vom Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI als sicher eingestuft werden und sich für die Betreiber aus finanzieller Sicht lohnen, bleiben sie am Netz.

2018 wurde das Kernenergiegesetz revidiert und an die Energiestrategie 2050 angepasst. Seither sind der Bau neuer Atomkraftwerke sowie die Wiederaufbereitung von radioaktivem Abfall verboten.

Das fordern FDP und SVP: «Wir müssen weiterhin auf Kernenergie setzen, sonst haben wir ein gigantisches Problem», sagte FDP-Präsident Thierry Burkart kurz nach der Annahme des Klimaschutz-Gesetzes. Auch SVP-Vizepräsidentin Magdalena Martullo-Blocher sprach sich für Investitionen in die Kernkraft aus.

Für FDP-Ständerat Ruedi Noser ist klar, dass die Klimaneutralität bis 2050 nur erreicht werden kann, wenn die bestehenden AKW weiter betrieben respektive erneuert werden. Beznau 1 und 2 sollen so lange betrieben werden, wie sie sicher sind. «Wenn sie nicht mehr sicher sind, soll man ein neues Reaktorgebäude bauen», so Noser. «Denn wenn diese AKW Anfang 2030, 2031 abgeschaltet werden, haben wir weniger Elektrizität als vorher, auch wenn man alle erneuerbaren Energien ausbaut.»

Das sagt die Energiebranche: Anders als die FDP sieht es Michael Frank, Direktor des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Zwar müsse man die Befürchtung einer Stromlücke ernst nehmen, wenn die politischen Akteure nicht rasch handelten. Auch eine Betriebsdauer der AKW Gösgen und Leibstadt von 70 bis 80 Jahren sei denkbar, wenn die Sicherheitsvorgaben eingehalten werden. Diese zwei AKW wären aufgrund ihres Alters auch am ehesten für eine Verlängerung geeignet, so Frank.

AKW Leibstadt
Legende: Das AKW Leibstadt ist mit Jahrgang 1984 das jüngste und leistungsstärkste Kernkraftwerk der Schweiz. REUTERS/Arnd Wiegmann

Doch aus Sicht des VSE ist der Weg zurück zum Atomstrom nicht nötig: «Die finanziellen Mittel und die Technologie wären in der Schweiz vorhanden, es sind gesellschaftlich-politische Hürden, es braucht dringend mehr Akzeptanz für den Ausbau», so Frank. So habe die Politik zum Beispiel beim Zubau der erneuerbaren Energien in den letzten zehn Jahren nicht vorwärtsgemacht.

Das sagen die AKW-Betreiber

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Bei den Betreibern von Kernkraftwerken will man nichts von Investitionen in neue AKW wissen. Der Stromkonzern Alpiq, Betreiber des Kernkraftwerks Gösgen, schreibt: «Zur Bewältigung der Klima- und Energiekrise muss rasch und nachhaltig investiert werden: in Energieeffizienz sowie erneuerbare Produktions- und Speicherkapazitäten.» Gemeinsam mit Partnern wolle man in den nächsten Jahren eine Milliarde Franken in erneuerbare Produktion und Speicher in der Schweiz investieren.

Das zeigt eine Studie: Die Stromversorgung der Schweiz ist laut Frank bis 2050 auch ohne Atomenergie gewährleistet. In Zusammenarbeit mit der Empa hat der VSE eine Studie zur Energiezukunft der Schweiz im Jahr 2050 erarbeitet. Die Studie zeigt: Die Versorgungssicherheit und das Erreichen der Klimaziele sind am ehesten gewährleistet, wenn die Akzeptanz für den Ausbau der erneuerbaren Energie hoch und die energiepolitische Kooperation mit Europa eng ist.

Die Studie geht in allen Szenarien davon aus, dass die AKW nach einer Laufzeit von 60 Jahren vom Netz genommen werden. «Der Wegfall fossiler Energieträger gäbe eine enorme Effizienzsteigerung und eine vier- bis sechsmal geringere Abhängigkeit von ausländischer Energie», so Frank.

Studie: Ausbau erneuerbarer Energien und Stromabkommen mit Europa

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Die Studie in Zusammenarbeit mit der Empa zeigt anhand von vier realistischen Szenarien, wie sich das Schweizer Energiesystem entwickeln kann. Zum einen wirkt sich die Akzeptanz für neue Energieinfrastruktur (offensiver vs. defensiver Zubau) auf den Systemumbau aus. Zum anderen spielt die Integration der Schweiz in den europäischen Energiemarkt eine Rolle (integriertes vs. isoliertes Schweizer Energiesystem).

Die Systemkosten aller Szenarien sind der Studie zufolge recht ähnlich und bewegen sich innerhalb einer Spanne von 15 Prozent. Das «defensiv-isolierte» Szenario weist laut Studie die höchsten Systemkosten von rund 28 Milliarden Franken pro Jahr auf und entspreche nahezu dem Status quo von heute. Der Umbau des Energiesystems benötigt rund 100 Milliarden Franken an Investitionen.

Noser hingegen weist darauf hin, dass der VSE mehr als zehn Prozent Strom im Winter importieren will. «Mit der Kernkraft müssen wir etwa drei Prozent importieren.» Ausserdem habe der letzte Winter gezeigt, wie unsicher die Stromproduktion aus Europa sei. «Es kann relativ schnell ein Problem in der Schweizer Stromversorgung geben.»

10vor10, 20.06.2023, 21:50 Uhr

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