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AHV in lateinischer Schweiz AHV-Abstimmung öffnet Rösti- und Polentagraben

Die lateinische Schweiz hat die AHV-Reform verworfen. Warum tickt sie bei der Sozialpolitik anders?

Das Verdikt der Westschweiz war klar: Mit Nein-Anteilen um die 62 Prozent verwarfen die grossen Kantone Genf und Waadt die AHV-Reform. Der Jura gar mit über 70 Prozent Nein-Stimmen. Auch Neuenburg, Freiburg und das Wallis sagten Nein.

Ein Röstigraben hat sich aufgetan. Laut Georg Lutz, Politologe an der Universität Lausanne, seien verschiedene Dinge zusammengekommen: «Die linken Parteien in der Romandie haben mehr als 10 Prozent mehr Stimmenanteile als in der Deutschschweiz.» Und bei sozialstaatlichen Anliegen gäbe es eine andere Sicht in der Westschweiz.

So auch im Tessin, das die AHV-Reform mit 57 Prozent Nein-Stimmen verwarf. Oscar Mazzoleni ist ebenfalls Politologe an der Universität Lausanne, hat mit seinen Tessiner Wurzeln aber besonders auch den Südkanton im Blick.

Im Tessin rede man nicht nur vom Sozialstaat, sondern schlicht vom Bundesstaat, der Eidgenossenschaft, sagt Mazzoleni. Das Tessin habe als abgelegener Kanton besondere Erwartungen an Bundesbern, dass der Staat sich um die Bevölkerung kümmere.

Diese Erwartungshaltung abgelegener Kantone gebe es neben dem Tessin auch in der Westschweiz, sagt Georg Lutz: «Jura, Tessin und Wallis sind eher strukturschwache Kantone mit dem geringsten Medianeinkommen in der Schweiz. Dort ist die AHV verglichen zu anderen Vorsorgegefässen wichtiger.»

Sozialstaat als gemeinsamer Nenner

Auch das Portemonnaie hat also eine Rolle gespielt. Die Romandie und das Tessin hätten aber zudem auch eine andere Sicht auf den Sozialstaat im Gegensatz zur Deutschschweiz. Das eine die beiden Kantone. «Auch wenn es bei Migrations- oder Europafragen unterschiedliche Haltungen zwischen Tessin und Romandie gibt: Der Sozialstaat ist der gemeinsame Nenner der lateinischen Schweiz», erläutert Oscar Mazzoleni.

Nicht nur die historisch verankerten Sichtweisen auf den Staat waren am gestrigen Abstimmungssonntag ausschlaggebend. Sondern auch Unterschiede in den Kampagnen spielten eine Rolle.

Georg Lutz ist der Ansicht, «dass man in der Westschweiz viel stärker auf die Benachteiligung der Frauen hingewiesen hat als in der Deutschschweiz. Aber umgekehrt gab es weniger Polemik, dass die Linke mit falschen Argumenten spiele.»

So waren kaum Vorwürfe einer «Lügenkampagne» zu hören, anders als in der Deutschschweiz. Im Tessin sei das Argument der Gleichberechtigung der Frauen weniger wichtig gewesen, sagt Oscar Mazzoleni: «Im Tessin prägten die Rolle des Staates, der schwierige Arbeitsmarkt im Kanton und die tiefere Kaufkraft die Kampagne.»

Kultur- und Kampagnenunterschiede

Es ist also die Summe aus unterschiedlichen Kampagnen und dem kulturellen Hintergrund, welche zum Nein der lateinischen Schweiz zur AHV-Reform führte. Und so fühlt sich die Romandie von der Deutschschweiz überstimmt. Eine Befindlichkeit, die man kennt. Doch das Abstimmungsresultat war knapp, hätte auch ins Nein kippen können.

Der Deutschschweizer Politologe Georg Lutz findet deshalb: «Ich will das nicht überbewerten. Denn es ist nicht systematisch so, dass die Westschweiz immer von der Deutschschweiz überstimmt wird.» So wie auch die Landbevölkerung nicht systematisch von den Städtern überstimmt werde. Oft sei es gar umgekehrt. «Entsprechend denke ich, dass sich das relativ schnell wieder legen wird.»

Und dennoch bleibt das Thema Vorsorge auch in Zukunft eines, an dem sich ein Rösti- und ein Polentagraben öffnen kann.

Balanceakt zwischen den Regionen

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Bei der AHV-Reform haben die Westschweizer Kantone verloren. Bei der Verrechnungssteuer hingegen war die Romandie deutlicher im Nein als die Deutschschweiz. «Dort hat ein gewisser Ausgleich stattgefunden», sagt Cloé Jans vom Forschungsinstitut GFS Bern. «Aber natürlich. In der Schweiz ist es immer ein Stück weit ein Balanceakt zwischen Verteilung der Stimmberechtigten versus Ständemehr. Das ist ein Mechanismus, wo verschiedene Sicherheitsventile eingebaut werden. Damit eben nicht einzelne Gruppen stärker überstimmt oder die ganze Zeit nur bestimmt werden können. Es gibt diese Vorkehrungen für den Minderheitsschutz.»

Aber natürlich sei es so, dass in sozialpolitischen Fragen gerade das Muster immer sehr ähnlich sei. «Es ist verständlich, wenn die Romandie ein bisschen enttäuscht ist darüber, wie regelmässig an den Urnen entschieden wird. Aber insgesamt gibt es keine Hinweise darauf, dass von einzelnen Landesteilen die Legitimität des Abstimmungsprozesses so grundsätzlich hinterfragt wird.»

SRF 4 News, Rendez-vous, 26.09.2022, 12:30 Uhr

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