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Gaza-Krieg Ärztin: «Ich hab noch nie etwas Ähnliches gesehen»

Die EU-Staats- und Regierungschefs haben von Israel eine bessere Versorgung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza gefordert. Währenddessen ist das Leid vor Ort unvermindert gross. Eine italienische Traumatologin, die gerade aus dem Kriegsgebiet zurückgekehrt ist, berichtet von ihren Erlebnissen.

«Es ist eine Katastrophe, absolut verheerend, dass ein Kind nicht nur durch Amputationen behindert ist und kaum Aussicht auf Verbesserung seiner Situation hat, sondern darüber hinaus auch völlig allein oder verwaist ist.»

Das sagt Tiziana Roggio gegenüber dem Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI). Roggio ist italienische Traumatologin und vor wenigen Tagen aus Gaza nach London zurückgekehrt, wo sie lebt und arbeitet.

Drei Wochen lang half sie als Freiwillige im Nasser-Spital in Khan Yunis im Süden des Gazastreifens. Es ist das wichtigste Gesundheitszentrum, wurde von Israel aber als militärische Zone definiert. Was gemäss Roggio bedeutet, «dass der Zugang sowohl für Patienten als auch für Personal extrem schwierig geworden ist».

Von den 36 Spitälern in Gaza wurden 19 vom israelischen Militär teilweise oder vollständig zerstört. Die Gesundheitsversorgung im Landstreifen ist zusammengebrochen.

Beispiellose Zustände

Gaza habe heute den höchsten Prozentsatz an Amputierten weltweit, fügt Roggio hinzu: «Ich erinnere mich an ein siebenjähriges Mädchen, das ich auch jetzt noch aus der Ferne betreue: Ihr wurden zwei Gliedmassen amputiert, und ihr Zustand hat sich aufgrund einer Infektion noch verschlechtert. Auch ihre Mutter hat eine Amputation erlitten, ebenso wie ihre Schwester. Ich könnte unendlich viele solcher Geschichten erzählen. Und oft haben die amputierten Kinder keine familiäre Unterstützung oder sind Waisen. Das merkst du, wenn du ihre Namen ins Register einträgst und feststellst, dass die Eltern gestorben sind.»

Tiziana Roggio: «Es ist ein Volk, das sich vergessen fühlt»

Tiziana Roggio ist eigentlich Ärztin im grössten Traumazentrum Londons, hat in ihren Ferien aber ehrenamtlich im Spital von Khan Yunis gearbeitet. Die Verletzungen und Traumata der Patientinnen und Patienten im Gazastreifen seien unvergleichlich: «Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen.» 60 Prozent der Opfer seien unter 15 Jahre alt.

 «Ein Volk, das von der Welt vergessen wird»

«Die Palästinenser in Gaza», sagt Roggio weiter zu RSI, «sind ein Volk, das sich von allen vergessen fühlt, von der ganzen Welt.» Gleichzeitig trotzten sie den Umständen, kämen jeden Tag zur Arbeit, obwohl sie vielleicht gezwungen gewesen seien, ihr zerstörtes Haus zu verlassen, oder Familienmitglieder verloren hätten oder 15- oder 20-mal umgesiedelt wurden.

Roggio erinnert sich: «Sie kommen am Morgen mit einem Lächeln, arbeiten mit Würde, effizient.» Aber gegen Ende ihrer Mission habe diese Resilienz spürbar abgenommen. «Wir sehen uns bald», habe sie ihnen zum Abschied gesagt. Und sie hätten geantwortet: «Falls wir noch da sind.»

In über 20 Monaten Krieg wurden laut Quellen des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums mehr als 56'000 Palästinenser getötet. Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Roggio berichtet: «Meine [palästinensischen; Anm.d.Red.] Kollegen im Spital sagten zu mir: ‹Ich hätte es vorgezogen, zusammen mit meinem Bruder, meiner Mutter zu sterben ...›, denn das ist kein Lebensumstand, der eines Menschen oder sonst eines Lebewesens würdig ist.»

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Tagesschau; 27.6.2025; 12:45 Uhr;liea

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