Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss ruft den Bundesrat dazu auf, sich deutlicher für ein Ende der Gewalt im Gazastreifen einzusetzen. Die Politikerin verlangt mehr Engagement.
SRF News: Was ist Ihre Hauptkritik am Bundesrat?
Ruth Dreifuss: Ich halte das Leiden der Bevölkerung in Gaza nicht mehr aus. Deshalb kritisiere ich, dass der Bundesrat nicht klar Stellung bezieht für die Menschenrechte und nicht deutlich benennt, was in Gaza Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstösse gegen das Kriegsrecht sind.
Vor ein paar Wochen haben Sie einen offenen Brief an den Bundesrat unterschrieben und am vergangenen Wochenende traten Sie bei einer Demonstration in Bern als Rednerin auf. Dort forderten Sie: «Der Bundesrat muss endlich sein Schweigen brechen.» Wie kommen Sie auf diesen Vorwurf?
Wenn nichts hinter den Wörtern steht, welche der Bundesrat immer wiederholt, dann ist das für mich Schweigen. Er tut zu wenig, um Resultate zu erzielen. Natürlich sagt der Bundesrat, dass er besorgt sei. Doch allein das Wort «besorgt» ist für mich so diplomatisch, dass es mich nicht überzeugt. Die Schweiz ist in ihrer Kritik am Töten in Gaza zurückhaltender als andere Länder.
Ich empfand Cassis' Reise als ziemlich abgehoben.
Laut dem Aussendepartement stimmt das nicht. Bundesrat Cassis hat vor zehn Tagen Israel und das besetzte palästinensische Gebiet besucht. Er sprach mit dem israelischen Aussenminister und forderte, humanitäre Hilfe für Gaza zu gewährleisten. Warum sagen Sie trotzdem, der Bundesrat schweige?
Ich empfand diese Reise als ziemlich abgehoben. Bundesrat Cassis flog mit dem Ziel dorthin, sich vor Ort ein Bild zu machen. Doch wie soll man sich in zwei Tagen eine fundierte Meinung zu einer derart komplexen Lage bilden?
Was fordern Sie konkret vom Bundesrat?
Die Schweiz hat auf Initiative von Privatpersonen Verletzte aus Gaza aufgenommen und medizinisch versorgt. Das sollte noch viel mehr geschehen. Zudem muss die Schweiz gemeinsam mit anderen Staaten Druck ausüben, damit die humanitäre Blockade aufgehoben wird.
Warum fordern Sie Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht nur für die Menschen in Gaza ein? Angesichts des Vernichtungsdrucks, dem Israel ausgesetzt ist, könnten Sie sich doch für beide Seiten einsetzen?
Ihre Frage ist berechtigt. Jeder einzelne Mensch ist wichtig. Man sollte sich auch für den Sudan, den Kongo oder die Ukraine einsetzen. Insofern: Ja, wir haben weltweit ein Problem mit Parteilichkeit. Es gibt Opfer, die in der öffentlichen Wahrnehmung dringlicher erscheinen als andere.
Der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ist ein Lebenstraum von mir.
Sie sprechen davon, dass Israel nach dem 7. Oktober 2023 ein Trauma durchlebt, viele Geiseln kehren nur noch tot zurück. Dennoch haben Sie sich kürzlich einer Demonstration für Solidarität mit Gaza angeschlossen. Wäre es aus Ihrer Sicht nicht genauso wichtig, Solidarität mit allen Betroffenen im Nahostkonflikt zu zeigen?
Der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ist ein Lebenstraum von mir. Aber meine Sorge gilt jetzt dem, was aktuell geschieht. Es ist der längste Krieg, den Israel je geführt hat – mit einer gewaltigen militärischen Übermacht. Das zerstört diesen Lebenstraum immer mehr, und das macht mir grosse Sorgen.
Das Gespräch führte David Karasek.