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Kritik an fehlender Prävention Zunehmende Fälle von Kinderprostitution in der Westschweiz

Im jüngsten bekannten Fall soll ein Barbershop Minderjährige für sexuelle Dienstleistungen ausgebeutet haben. Eines der Opfer war offenbar noch keine 15 Jahre alt.

Der Barbershop, der mitten im Genfer Stadtzentrum liegt, ist heute geschlossen. Nur die Spuren der Polizeisiegel, die noch an der Tür sichtbar sind, lassen erahnen, was sich hinter der Fassade abgespielt haben könnte.

Ein halbes Dutzend Jugendliche, von denen die Jüngste noch keine 15 Jahre alt war, wurde regelmässig im Hinterzimmer für sexuelle Dienstleistungen missbraucht.

Im Mai führte die Polizei eine Razzia durch. Acht volljährige Männer wurden festgenommen. Sie werden unter anderem verdächtigt, sexuelle Handlungen mit Minderjährigen gegen Bezahlung vorgenommen und sie zur Prostitution angestiftet zu haben.

Die Genfer Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren eröffnet und gibt keine weiteren Kommentare ab.

Immer mehr Fälle

Das ist offenbar nicht der einzige solche Fall, wie eine Recherche des Westschweizer Fernsehens RTS zeigt. Bei der zuständigen Behörde der Genfer Kantonspolizei tauchen fast jede Woche neue Verdachtsfälle im Bereich der Prostitution Minderjähriger auf.

«Es ist ein extrem geheimes, diskretes Milieu», erklärt Marc Zingg von der Genfer Kantonspolizei. «Und beunruhigend, weil wir es nicht unter Kontrolle haben. Es findet im Untergrund statt.»

In Genf wurden von den zuständigen Stellen rund 50 Jugendliche identifiziert, die möglicherweise der Prostitution nachgehen. Im Kanton Waadt sind es etwa 40, gemäss der Waadtländer Kantonspolizei.

Früherer Fall in Genf zeigt Komplexität von Kinderprostitution

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Ein Fall in Genf, der 2024 von einem Gericht beurteilt wurde, illustriert die Komplexität und Schwere dieser Fälle.

Die Fakten reichen zurück in den Sommer 2021. Zwei Männer und eine Frau in ihren Zwanzigern treffen eine 15-jährige Jugendliche, die von ihrem Wohnort im Kanton Waadt geflohen ist.

Nachdem sie sich angefreundet haben, fährt die Gruppe nach Paris, angeblich um zu feiern.

Aber die Realität sieht anders aus. Die Jugendliche prostituiert sich schliesslich in billigen Hotels in Pariser Vororten, unterstützt von der volljährigen jungen Frau, die sich ebenfalls prostituiert.

RTS hat die Anwältin der Letzteren kontaktiert. Sie versichert, dass ihre Klientin nicht wusste, dass das Mädchen minderjährig war. «Meine Klientin wurde sich erst im Nachhinein der Schwere dessen bewusst, was passiert war. Sie selbst war seit ihrem sechzehnten Lebensjahr in der Prostitution», erklärt Anwältin Joëlle Manca.

Die beiden Männer sorgen ihrerseits für die Logistik: Sie schalten Inserate im Internet, mieten die Zimmer, sorgen für Sicherheit und erhalten bis zur Hälfte der Einnahmen der Teenagerin.

«Meine Klientin und das minderjährige Mädchen fühlten sich umsorgt, weil sie Geschenke erhielten, weil die Männer ihnen die Hotelzimmer und das Essen bezahlten», ergänzt Manca. «Und wenn man sechzehn Jahre alt ist, fühlt man sich, denke ich, schnell sicher mit ihnen.»

Die Ausbeutung dauert mehrere Wochen, mit mehreren Kunden pro Tag. Das Trio von Volljährigen wird schliesslich festgenommen und zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt, insbesondere wegen Anstiftung zur Prostitution.

Die Dunkelziffer könnte jedoch weitaus höher sein. «Das ist die Spitze des Eisbergs. Es ist schwierig zu sagen, ob es 100, 200 oder 300 sind», sagt Zingg. «Die Minderjährigen, die sich prostituieren, sind grundsätzlich junge Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren.»

Die jungen Mädchen selbst werden in erster Linie als Opfer sexueller Ausbeutung betrachtet. Was die Ermittler vor allem interessiert, sind daher die Kunden. Und die eventuellen Netzwerke dahinter.

Für die Vermittlung der jungen Mädchen werden soziale Netzwerke und Onlineinserate genutzt. RTS konnte Chats zwischen Minderjährigen und potenziellen Kunden einsehen.

Einem der Mädchen wird vorgeschlagen, sich in einem Keller im Kanton Genf zu treffen, für Sex mit einem volljährigen Mann, für 60 Schweizer Franken.

Keine spezifischen Strukturen

Die Frage ist: Was kann man diesen Jugendlichen anbieten, um sie aus der sexuellen Ausbeutung zu holen? Im Gegensatz zu Frankreich, wo spezialisierte Heime geschaffen wurden, um minderjährige Opfer sexueller Ausbeutung aufzunehmen, verfügt die Schweiz über keine solchen spezifischen Strukturen.

RTS-Journalistin Flore Amos über ihre Recherche:

In Lausanne bietet die Vereinigung Astrée, die Opfer von Menschenhandel betreut, eine Begleitung an, aber nur ambulant. «Das sind Jugendliche, die sehr selbstsicher wirken, aber man merkt sehr schnell, dass sie eine tägliche Begleitung in unmittelbarer Nähe brauchen», erläutert die Direktorin, Angela Oriti.

Opfer, die sich nicht als solche sehen

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Delphine Pidoux, Inspektorin bei der Waadtländer Kantonspolizei, trifft regelmässig Minderjährige, die verdächtigt werden, sich zu prostituieren, oft bei ihrer Rückkehr von Fluchtversuchen nach Lyon, Marseille oder Paris. «Es ist kompliziert, weil sie sich nicht als Opfer fühlen. Sie verstehen nicht, warum wir erfahren wollen, was passiert, oder warum wir versuchen, sie mittels Hilfsorganisationen aus dieser Situation herauszuholen.»

Angesichts der Lage hat der Kanton Waadt kürzlich eine in der Westschweiz einzigartige Weiterbildung für Erzieher und Erzieherinnen eingerichtet.

Frédéric Vuissoz, stellvertretender Generaldirektor der DGEJ (Generaldirektion für Kinder und Jugend), erklärt: «Wir wollen die Fachleute mit Instrumenten ausstatten, um die ersten Alarmsignale erkennen zu können, denn je früher man sie erkennt, desto eher kann man mit den betroffenen Jugendlichen etwas aufbauen.»

Ihrer Meinung nach müssen unbedingt Instrumente zur Erkennung dieser Fälle in allen Kantonen eingerichtet werden. «Wir müssen aus der Verleugnung herauskommen. Es betrifft immer mehr Minderjährige, immer jüngere.»

RTS Mise au point, 6.12.25, 20:10 Uhr;stal;sten

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