In ihrem neuesten Buch «Dictionnaire amoureux du féminisme» ruft die 47-jährige Rokhaya Diallo dazu auf, Anständigkeit, Diskretion, Bescheidenheit oder Liebenswürdigkeit zu verweigern oder sogar das Tabu des Zorns zu brechen. Sie sieht das als «Schritt zu etwas Besserem».
Wenn man eine Frau ist und ziemlich klare Ideen hat und sie bestimmt äussert, wird man sofort als unverschämt und arrogant betrachtet.
«Das ist wirklich nicht einfach, weil es eine Dekonstruktion aller impliziten Forderungen ist, die uns unser ganzes Leben lang begleiten», betonte die Autorin gegenüber dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS). «Wenn man eine Frau ist und ziemlich klare Ideen hat und sie bestimmt äussert, wird man sofort als unverschämt und arrogant betrachtet. Deshalb glaube ich, dass man diese Wörter, die beleidigend sein sollen, als Komplimente verstehen sollte. Das bedeutet, dass man aus dem Rahmen fällt.»
Hören Sie einen Ausschnitt aus dem Interview mit Rokhaya Diallo:
Frauen würden oft dazu angehalten, ihre Emotionen zu unterdrücken, da sie «als unästhetisch gelten». «Aber es gibt objektive Gründe, wütend zu sein», betont Diallo. «Ich denke, dass diese Wut nicht ungesund und nicht unästhetisch ist. Sie kann konstruktiv und fruchtbar sein, und wir müssen sie wirklich so begreifen.»
Redekunst als Waffe der Emanzipation
Rokhaya Diallo weilt in der Schweiz, weil sie in Neuenburg ein Seminar zur Demokratisierung des Zugangs zur öffentlichen, medialen, kulturellen und politischen Sphäre moderiert. Ihrer Ansicht nach ist heute «die öffentliche Sphäre von einer bestimmten Gesellschaftsschicht» besetzt. Vor allem für Frauen und Minderheiten gebe es «unheimlich viele Hindernisse». Diese hingen auch «mit einer Form der Selbstzensur zusammen», ergänzt Diallo. «Deshalb ist es wichtig, Zugang zu Kenntnissen zu erhalten, die es ermöglichen, sich gelassener im öffentlichen Raum zu äussern.»
Ich erinnere mich, dass ich grosse Schwierigkeiten hatte, meine Sätze zu beenden.
Die Aktivistin illustriert dies mit ihrer persönlichen Erfahrung: «Als ich anfing, in Frankreich an Debatten in Radio und Fernsehen teilzunehmen, war ich oft die einzige Frau. Und ich erinnere mich, dass ich grosse Schwierigkeiten hatte, meine Sätze zu beenden. Ich wurde unheimlich oft unterbrochen, im Vergleich zu den anderen. Es kam vor, dass man mich anschrie. Ich hatte grosse Mühe, Ideen zu äussern, die für andere kontrovers waren oder ihnen sogar missfielen.»
Auch wenn ihr solche Dinge immer noch passierten, stelle sie fest, dass sich die Situation in den Medien verbessert habe. «Es gibt viel mehr Frauen, die an Debatten teilnehmen und das politische Geschehen kommentieren», betont Diallo. «Es ist noch nicht ideal, aber es entwickelt sich, und ich möchte zu dieser Entwicklung beitragen.»
Sie präzisiert jedoch, dass rhetorische Fähigkeiten nicht nur in den Medien wichtig sind. «Es hilft auch, wenn man ein Vorstellungsgespräch führt, wenn man ein Projekt pitchen, ein Unternehmen gründen oder seine Arbeiten in einer Sitzung verteidigen will.»
Obwohl sie sich selbst an ein weibliches und multikulturelles Publikum richtet, erinnert die Aktivistin daran, dass dies auch viele weisse Männer betrifft: diejenigen aus den Unterschichten. «In Frankreich zum Beispiel war die Gelbwesten-Bewegung ein Aufschrei der gesellschaftlichen Schichten, die nicht nur vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind, sondern auch gewissermassen vom Wirtschaftsleben. Und man sieht die ganze Verachtung, die sich gegen sie richtete, auch von unserem Präsidenten.»