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Uni-Proteste in den USA «Ich weiss, wie sich die Kinder in Gaza fühlen»

Marione Ingram hat den Holocaust überlebt. Heute protestiert sie auf dem Campus der George Washington University an der Seite von Studierenden gegen den Krieg im Gazastreifen.

Es sei an ihrem achten Geburtstag gewesen, erinnert sich Marione Ingram, als sie ihrer Mutter ein Versprechen abgegeben habe. Diese sei an jenem Tag traurig gewesen, weil sie ihrer Tochter kein richtiges Geburtstagsfest bieten konnte. «Für uns Juden war das in Kriegszeiten unmöglich», sagt Marione. Um die Mutter aufzumuntern, habe sie zur ihr gesagt: «Mach dir keine Sorgen, Mama, wenn ich gross bin, werde ich eine Friedensstifterin sein, ich werde für den Frieden kämpfen.»

Blick über die Sprachgrenzen

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Dieser Artikel erschien zuerst auf Italienisch und wurde durch die «dialog»-Redaktion übersetzt. Die Originalversion können Sie auf  RSI lesen.

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Achtzig Jahre später kann Marione sagen, dass sie Wort gehalten hat. Nach einem Leben, das vom Holocaust und vielen anderen Kämpfen geprägt war, marschiert sie weiterhin für den Frieden. Seit Oktober, seit dem ersten israelischen Vergeltungsschlag auf den Gazastreifen, demonstriert Marione jeden Tag vor dem Weissen Haus für einen Waffenstillstand im Nahen Osten.

«Alles, was ich in Gaza sehe, habe ich erlebt»

Vor ein paar Tagen hat sie sich den Studierenden angeschlossen, die an der George Washington University für Palästina demonstrieren: «Ich komme hierher», sagt sie, «weil ich mich als jüdische Überlebende des Holocaust verpflichtet fühle. Ich bin die glücklichste Frau der Welt, denn ich bin eine Überlebende.»

Marione Ingram mit ihrem Ehemann Daniel.
Legende: Marione Ingram und ihr Ehemann Daniel protestieren jeden Tag gegen den Krieg im Gazastreifen. RSI

Fühlt sie sich als Jüdin nicht unwohl, wenn sie neben denen steht, die gegen Israel protestieren? «Ich schäme mich, es tut mir weh, zu sehen, was Juden tun», sagt Marione. Aktivisten aller Altersgruppen und Glaubensrichtungen haben sie mit Bewunderung und Dankbarkeit aufgenommen. Im Kreis von ihnen zögert sie nicht, für die palästinensische Sache einzustehen: «In dem, was in Gaza geschieht, sehe ich meine Kindheit wieder, Tag und Nacht, immer wieder, ohne Ende. Alles, was ich in Gaza sehe, habe ich erlebt, und ich weiss genau, wie sich die Kinder in Gaza fühlen.»

Nach ihrer Ankunft in den USA im Jahr 1952 begann sich Marione bald für die Bürgerrechte einzusetzen. Zuerst für die Rechte der Afroamerikaner, dann ab 1968 gegen den Vietnamkrieg und für die Rechte der Frauen. Kritik, dass die heutigen Anti-Kriegs-Proteste antisemitisch seien, weist sie zurück. «Es passiert in jeder Protestbewegung, dass es Hitzköpfe gibt, die verrückte Dinge sagen», sagt sie. «Aber was ich jetzt sehe, halte ich nicht für Antisemitismus. Sie sind vielmehr aufrichtig bewegt von der anhaltenden humanitären Tragödie in Gaza.»

Marione wurde im November 1935 in Hamburg geboren. Sie wuchs mit ihrer Mutter und zwei Schwestern auf. «Am 8. November 1941», sagt sie beim Betrachten von Fotos, «wurden alle unsere Liebsten umgebracht.» Sie versteckte sich bei Bekannten in einem Holzschuppen, entkam den Razzien der Nazis und entging zweimal einem Deportationsbefehl.

Es ist nicht der Holocaust, aber es ist Völkermord.
Autor: Marione Ingram Jüdische Aktivistin gegen den Krieg in Gaza

Die Albträume ihrer Kindheit tauchen heute immer wieder auf: «Ich erkenne alle Zeichen derer, die ein anderes Volk auslöschen wollen», sagt sie. Handelt es sich bei dem, was im Gazastreifen geschieht, um einen Völkermord? «Auf jeden Fall. Es ist nicht der Holocaust, aber es ist Völkermord.»

Jeden Nachmittag geht sie heute mit ihrem Mann Daniel Hand in Hand der Pennsylvania Avenue entlang, um gegen die Nahostpolitik von Joe Biden zu protestieren. «Er ruiniert seine Wiederwahlchancen», sagt Marione verbittert. «Die jungen Leute werden ihn nicht wählen, und das ist eine Gefahr für die Welt, wenn dieser andere Kerl wieder ins Weisse Haus kommt...»

RSI Telegiornale, 29.4.2024, 20 Uhr

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