Der heutige Mann soll vor allem emotional kontrolliert und dominant sein, sind sich viele junge Männer einig. Diese Erfahrung hat der Sozialarbeiter Kambez Nuri in Workshops mit etwa 1000 jungen Männern gemacht. Er erzählt, wie das mit den Idealen von Influencern wie Andrew Tate zusammenhängt und welche Risiken es birgt.
SRF News: Welchem Ideal sind Sie in Ihren Workshops begegnet?
Kambez Nuri: Für die allermeisten ist klar: ein Mann muss stark sein, seine Familie ernähren und schützen können. Wenn er Schwächen hat, soll er diese für sich behalten und irgendwie selbst klarkommen. Kurz: Ein Mann muss zu jeder Zeit und überall souverän wirken.
Sehen das wirklich alle jungen Männer so?
Was sie mir schildern, sind oft gesellschaftliche Erwartungen an Männer, die sie wahrnehmen. Diese Grundpfeiler ziehen sich erstaunlich häufig durch, unabhängig davon, ob es ein Workshop mit Geflüchteten, Gymnasiasten in der Stadt oder Sek-Schülern auf dem Land ist.
Welche Rolle spielen Männlichkeitsideale von Influencern wie Andrew Tate, der männliche Dominanz einfordert und sich auch frauenfeindlich äussert?
Andrew Tate ist inzwischen einer von vielen Influencern, die solche Männlichkeitsbilder auf Social Media teilen. Ihre Ideale und Codes sind in den Workshops omnipräsent. Sie werden von den Jugendlichen selbst eingebracht. Ich mag mich an keinen Workshop erinnern, in dem Codes wie «Alpha Male», «Sigma Male» oder «Lone Wolf» nicht Thema waren.
Die Influencer, die solche Ideologien verbreiten, erreichen weltweit Millionen von jungen Männern. Worin liegt die Anziehungskraft?
Die Influencer präsentieren auf hochkomplexe Fragen einfache und niederschwellige Antworten. Sie sagen zum Beispiel «Steh früh auf, schau auf deinen Körper, lese dieses Buch» – dann wirst du eine Frau finden und erfolgreich sein. Damit knüpfen sie an Unsicherheiten an, die viele junge Männer haben. Vom Druck in der Schule, Fragen zur Sexualität und der eigenen Haltung zum Leben bis hin zu wie man Geld verdienen oder reich werden kann.
Was spricht dagegen, früh aufzustehen, Sport zu machen und klare Ziele zu verfolgen?
Nichts, im Gegenteil: Wir sollten die Ziele und Träume junger Männer anerkennen, diesen auch politisch Raum geben und darüber diskutieren. Problematisch ist aber, dass die Rezepte der Influencer meist weniger auf das Wohl junger Männer ausgerichtet sind, als einem Geschäftsmodell zu folgen. Es geht letztlich häufig darum, jungen Männern etwas zu verkaufen. Zugang zu digitalen Communities oder Coachings zum Beispiel.
Wie wirken sich die Rezepte der Influencer im Alltag der jungen Menschen aus?
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass gewisse Ansätze kurzfristig helfen können; zum Beispiel, um fit und muskulös zu werden. Aber wenig Beachtung finden in der Regel die langfristigen Folgen: Wenn Influencer radikale Selbstoptimierung und Fokussierung fordern, mit welchen Kosten geht dies einher? Wenn Männlichkeit auf Dominanz und Stärke reduziert wird, sehe ich die Gefahr, dass junge Männer vermehrt Gewalt ausüben und psychisch und emotional verkümmern.
Was bräuchte es, um dem entgegenzuwirken?
Dazu gibt es keine einfachen und schnellen Lösungen. Was aus meiner Sicht helfen kann: Räume, in denen junge Männer offen reden können. Vorbilder, die zeigen, dass Stärke und Empathie zusammengehen. Eine gesellschaftliche Diskussion über Rollenbilder und Strukturen, in denen junge Menschen heute aufwachsen, und der politische Wille, in junge Menschen zu investieren.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.