Claude ist Anfang 30, wohnt in Winterthur und arbeitet dort beim Radio. Vor Winterthur hat sie in Zürich und Berlin gearbeitet und studiert. Die Fotografin ist selber zwar auf dem Land aufgewachsen, doch verliess sie ihre Heimat für das Studium und das Kulturleben. «Es hatte dort halt einfach nichts. Ich war schon immer sehr kulturinteressiert, deswegen zog es mich in die Stadt.»
Doch nun steht Claude kurz vor ihrem Umzug zurück aufs Land. Sie mietet zurzeit ein Atelier in der Gemeinde Lichtensteig im Toggenburg und bald möchte sie dort auch wohnen.
Neue Strategien gegen Abwanderung
Im 2'000-Seelen-Städtchen Lichtensteig sucht man eine Post- oder Bankfiliale vergebens. In der ehemaligen Textilhochburg gab es einen grossen Leerstand, denn auch sie litt stark unter Abwanderung.
Doch vor rund 10 Jahren hat die Gemeinde unter Stadtpräsident Mathias Müller neue Wege eingeschlagen: In einem partizipativen Prozess mit rund 140 Menschen entschied die Gemeinde, dass der Leerstand umgenutzt werden soll.
Seither ist in Lichtensteig viel passiert. In der ehemaligen Textilfabrik gibt es günstig mietbare Ateliers, in der ehemaligen Postfiliale ist ein Co-Working-Space untergebracht, das Rathaus wurde in ein Kulturhaus umfunktioniert, es gibt einen Sportclub und einen 24-Stunden-Shop.
Lichtensteig verzeichnete laut Mathias Müller im letzten Jahr mit fünf Prozent das grösste Bevölkerungswachstum im Kanton St. Gallen und gewann für die Entwicklungsstrategie sogar den Wakkerpreis .
SVP macht Widerstand gegen Kulturschaffende
Die neue Strategie konnte nicht ganz alle Bewohnerinnen und Bewohner begeistern. Im vergangenen Jahr gab es von der SVP Lichtensteig eine Petition gegen das Rathaus der Kultur. Rund 250 Unterschriften wurden unter dem Motto «Schluss mit der Steuergeldvernichtung» gesammelt. Die Petition forderte die Schliessung des Rathauses.
Wir versuchen in unserem Programm verschiedene Geschmäcker zu bedienen.
Laut Präsident der SVP Lichtensteig, Roman Hug, habe man aber mittlerweile den Dialog mit dem Rathaus für Kultur gesucht und Schritte aufeinander zugemacht.
Die Kritiken seien laut Claude, welche im Rathaus im Co-Präsidium ist, teilweise auch gerechtfertigt gewesen. Sie betont, dass man niemanden systematisch ausschliessen wolle. «Wir versuchen in unserem Programm verschiedene Geschmäcker zu bedienen.»
Kultur – der Schlüssel zum Erfolg?
Laut Damian Jerjen, Direktor Schweizer Verband für Raumplanung, sei Lichtensteig in einer Vorreiterrolle. Jedoch sei Urbanisierung und Kultur nicht für jede Gemeinde die richtige Strategie gegen Abwanderung. Jede Gemeinde müsse selbst evaluieren, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und daraus eine Strategie entwickeln. Was es jedoch immer benötige, seien gute ÖV-Anbindungen und einen Gemeindepräsidenten mit klaren Visionen.
Wir wurden auch schon angefeindet, weil wir die Regenbogenflagge rausgehängt haben.
Für Claude ist klar: Die nächsten 10 Jahre möchte sie in Lichtensteig bleiben. Sie hat dort eine Community gefunden, arbeitet im Rathaus für Kultur und hat Platz in ihrem Atelier, um ihrer Kunst nachzugehen. Herausforderungen würde es immer geben. «Wir wurden auch schon angefeindet, weil wir die Regenbogenflagge rausgehängt haben. Aber es ist ja auch spannend, diese Themen hierherzubringen und darüber zu diskutieren.».