Zum Inhalt springen

Soziale Medien im Visier Eltern, Schulen und Behörden klagen gegen Instagram, Snap und Co.

Die Plattformen machten Jugendliche abhängig für mehr Profit, so der Vorwurf von mehreren Klagen in den USA. Behörden und Eltern erzählen von ihren Erfahrungen mit sozialen Medien und ihren Beweggründen für die Klagen.

Mit elf Jahren eröffnete Alexis Spence heimlich ihr erstes Instagram-Profil, weil sie in ihrem Freundeskreis dazugehören wollte. Und sah bald verhängnisvolle Bilder. «Es fing mit Fitness und Models an, und langsam wurden es Inhalte mit Essstörungen», erzählt sie. «Ich sah diese grosse Gruppe, all das Lob in den Kommentaren, und ich dachte, oh, das ist Perfektion, das wollen die Leute sehen. So gehöre ich dazu und habe Freunde, wenn ich perfekt bin.» Ihr Tagebuch ist Zeuge, wie sich Alexis zunehmend als wertlos und hässlich empfand, während sie immer weiter scrollte in der Insta-Welt.

Die Bleistiftzeichnung aus dem Tagebuch, die im Text beschrieben wird.
Legende: Ihrem Tagebuch vertraute sich Alexis Spence als junger Teenager an. Sie fühle sich dumm, hässlich und wertlos. Smartphone und Laptop liegen daneben. SRF/Viviane Manz

Die Zeichnung zeigt sie in einer Ecke sitzend, mit zerstörerischen Gedanken, das Smartphone und der Laptop daneben. Mit 16 landete sie schliesslich in der psychiatrischen Abteilung einer Klinik, magersüchtig und mit Suizidabsichten. Für Alexis ist klar: «Ich glaube, ich hätte keine Essstörung entwickelt, hätte ich nicht in so einem jungen Alter diese Bilder gesehen.»

Alexis sitzt auf einem Stuhl vor dem Haus und erzählt von ihren Erfahrungen.
Legende: Alexis sagt heute, sie habe immer weitergescrollt auf Insta, um zu sehen, wie sie perfekt sein könne. Doch es war nie genug. Sie habe Leute mit nach aussen perfektem Leben gesehen, und sie war es nicht. SRF/Viviane Manz

Alexis hat inzwischen einen Assistenzhund. Draco weicht ihr nicht von der Seite und soll verhindern, dass Alexis sich Schaden zufügt. Er lässt sie zum Beispiel nicht allein im Bad.

Alexis und ihr Assistenzhund im Garten vor dem Haus.
Legende: Seit einigen Jahren begleitet Draco Alexis auf Schritt und Tritt. Der Assistenzhund ist ausgebildet, um sie zu begleiten und ihr dabei zu helfen, sich nicht wieder selbst zu schaden. SRF/Viviane Manz

Die Eltern ahnten zunächst nicht, dass ihre Tochter ein falsches Alter angegeben und ein Instagram-Profil eröffnet hatte. So stark war der Sog der sozialen Medien, dass Alexis ihre Eltern geschickt über Jahre und auf verschiedenste Weise täuschte und sich über die Regeln hinwegsetzte. Nachdem sie später ein eigenes Smartphone bekommen hatte, lud sie etwa eine App herunter, die wie ein Rechner aussah, aber ihre Instagram-App versteckte.

Die Leute sagen oft, die Eltern müssen halt das Smartphone kontrollieren. Nun, meine Eltern haben genau das getan.
Autor: Alexis Spence Betroffene

«Wir schauten das Smartphone an, aber wir sahen nur eine Taschenrechner-App», erzählt der Vater, Jeff Spence. Die Eltern von Alexis hatten klare Beschränkungen für die Nutzung des Smartphones. Im Nachhinein ist ihnen bewusst: «Sie fand immer einen Weg, sie zu umgehen.» Alexis bestätigt: «Die Leute sagen oft, die Eltern müssen halt das Smartphone kontrollieren. Nun, meine Eltern haben genau das getan.»

Die Familie mit Hund im Wald
Legende: Die Familie Spence unternimmt viel zusammen und hat ein enges Verhältnis. Die Eltern Kathleen und Jeff Spence waren verzweifelt, dass sie Alexis dennoch nicht vor Magersucht und Depressionen bewahren konnten. SRF/Viviane Manz

Die Eltern waren in verzweifelter Sorge – doch dann realisierten sie, dass ihre Tochter kein Einzelfall ist. Whistleblowerin Francis Haugen sagte 2021 vor einem Ausschuss des US-Kongresses, dass der Konzern von Instagram und Facebook aus eigener Forschung gewusst habe, dass die Plattformen Teenagern schaden könnten, insbesondere Mädchen. «So, wie sie auf Instagram Inhalte zeigen, verstärken sie die Präferenzen. Facebook weiss, dass sie Junge zu Inhalten mit Magersucht führen», so die Aussage von Haugen.

Sie stellen ihren Profit über die Sicherheit der Kinder.
Autor: Kathleen Spence Mutter von Alexis

Für Alexis' Mutter, Kathleen Spence, waren die Enthüllungen ein Schock. «Meta wusste, dass jedes dritte Mädchen schädliche Inhalte erhielt, und wir waren im Spital und fürchteten um das Leben unserer Tochter.» Sie ist wütend auf Meta, die Betreiberin von Instagram und Facebook. «Sie verdienen 80 Millionen im Jahr mit Kindern. Sie wollen die Algorithmen nicht abstellen, sie wollen das Alter nicht überprüfen. Sie stellen ihren Profit über die Sicherheit der Kinder.»

Die Eltern von Alexis erzählen der Reporterin von Alexis Erfahrungen. Sie sitzen auf einem grauen Sofa im Wohnzimmer.
Legende: Kathleen und Jeff Spence sagen, die Eltern tragen natürlich eine Verantwortung, ihren Kindern den Umgang mit Sozialen Medien zu erklären und zu beaufsichtigen. Doch auch die Social-Media-Unternehmen müssten ihren Teil beitragen. SRF/Viviane Manz

Die Spences klagten wie Hunderte andere Eltern gegen die Betreiberfirmen von Plattformen der sozialen Medien. Die Klagen machen geltend, dass die Unternehmen mitverantwortlich seien für die steigenden psychischen Probleme von Jugendlichen in den USA und Profit über das Wohl der Kinder stellen.

Auch Dutzende Bundesstaaten klagen gegen Meta

Box aufklappen Box zuklappen

Meta ignoriere die negativen Folgen von Facebook und Instagram für Jugendliche, um mehr Gewinn zu machen, heisst es in der am 24. Oktober 2023 in Kalifornien eingereichten Klageschrift . Rund drei Dutzend Bundesstaaten werfen Meta unter anderem vor, das Geschäftsmodell der Plattformen sei darauf ausgerichtet, dass Kinder und Jugendliche mehr Zeit auf der Plattform verbringen. Die Dienste förderten Probleme wie Essstörungen, heisst es in der Klageschrift weiter. Meta zeigte sich enttäuscht, dass die Bundesstaaten den Klageweg eingeschlagen hätten, statt an branchenweiten Standards für von Teenagern genutzte Apps zu arbeiten. Man habe seit Beginn der Ermittlungen aufgezeigt, wie Meta daran arbeite, junge Nutzerinnen und Nutzer auf den Plattformen zu unterstützen, konterte das Unternehmen.

Kristin Bride hatte gegen Snap geklagt und die damit verbundene App Yolo, die es erlaubte, anonyme Nachrichten zu verschicken. Ihr 16-jähriger Sohn Carson hatte sich 2020 erhängt. «Nichts kann den Horror dieses Morgens beschreiben. Wir hatten keine Ahnung, weshalb er sich das angetan hatte, bis wir herausfanden, dass Carson in den Wochen vor seinem Suizid Hunderte erniedrigende und bedrohende Nachrichten erhalten hatte», erzählt sie.

Carson hatte sein Profil auf «privat» gestellt, das heisst, die Nachrichten kamen von seinen High-School-Kollegen. Der Teenager hatte verzweifelt versucht, herauszufinden, wer hinter den Nachrichten steckte.

Die High School Central Bucks West von aussen fotographiert.
Legende: Der Bezirk Bucks County in Pennsylvania will mit der Klage erreichen, dass soziale Medien für Jugendliche sicherer werden, und dass die Unternehmen Kosten übernehmen. Denn die Schulen hätten zusätzliches Personal anstellen müssen, etwa wegen Cybermobbing und psychischer Probleme. SRF/Viviane Manz

Die Mutter sagt, sie habe ein enges Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt. Und doch traute er sich nicht, die Eltern zu Hilfe zu holen.

Ein Familienfoto der Familie Bride
Legende: Kristin Bride und ihre Familie – die Eltern hatten keine Ahnung, dass ihr Sohn Carson (Zweiter von rechts) über eine Erweiterung auf Snapchat gemobbt wurde. Carson erhängte sich mit 16 Jahren in der Garage seines Elternhauses. SRF/Viviane Manz

Bride kontaktierte Yolo und Snap mehrfach ohne Erfolg, erzählt sie. Schliesslich reichte sie Klage ein. Kurz darauf wurde Yolo eingestellt. Doch es gibt neue Nachahmer-Apps. Wie etwa NGL, «Not gonna lie» auf Instagram, mit denen anonyme Nachrichten verschickt werden können.

Wir wissen aus Erhebungen in unserem Bezirk, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die viel Zeit am Smartphone und auf Social Media verbringen, massiv gestiegen ist, und gleichzeitig sind Depressionen und negative Selbstwahrnehmung gestiegen.
Autor: Bob Harvie Präsident von Bucks County

Auch mehrere Schulen in den USA, oder wie in Pennsylvania der gesamte Distrikt Bucks County mit Hunderten Schulen, klagen gegen die Betreiber von Instagram, Snapchat, Tiktok und anderen Plattformen. Sie hätten erhöhte Kosten für die Betreuung von immer mehr Jugendlichen mit psychischen Problemen. Dazu käme Cybermobbing, und manche Jugendliche könnten ihr Smartphone buchstäblich nicht weglegen, sagt der Präsident von Bucks County, Bob Harvie. «Wir wissen aus Erhebungen in unserem Bezirk, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die viel Zeit am Smartphone und auf Social Media verbringen, massiv gestiegen ist, und gleichzeitig sind Depressionen und negative Selbstwahrnehmung gestiegen.»

Bob Harvie im Interview vor einer braunen Bücherwand
Legende: Bob Harvie, Präsident von Bucks County, war früher High-School-Lehrer. Er habe selber gesehen, wie Schülerinnen und Schüler abhängig von sozialen Medien wurden und buchstäblich ihr Smartphone nicht weglegen konnten. Probleme mit Kolleginnen und Kollegen wie Mobbing würden nach der Schule über solche Plattformen weitergehen. SRF/Viviane Manz

In der Klage von Bucks County steht, die Unternehmen brächten die Jugendlichen gezielt dazu, möglichst unbeschränkt Zeit auf ihren Plattformen zu bringen. «Das erhöht das Einkommen für die Unternehmen. Wir glauben, die Unternehmen wissen genau, was sie tun, ähnlich wie Tabakfirmen das wussten», sagt Harvie. Dazu würden Algorithmen per Design auch schädliche Inhalte anzeigen.

Das sagt Meta zu den Klagen

Box aufklappen Box zuklappen

Mit den Vorwürfen konfrontiert, hat Meta nicht auf die Anfrage von SRF reagiert. Auf seiner Website schreibt das Unternehmen, die Sicherheitsvorkehrungen für Jugendliche seien verschärft worden, und es gibt Tipps für einen sicheren Umgang mit sozialen Medien. Gegenüber einem US-Sender sagte Meta Anfang Jahr, dass es fast alle Instagram-Hashtags und Nutzer entfernt habe, die Selbstverletzung, Suizid oder Essstörungen fördern.

Bytedance, das hinter Tiktok steht, hat nicht auf die Anfrage von SRF reagiert.

Das sagt Snapchat zu den Klagen

Box aufklappen Box zuklappen

Snapchat schreibt auf Anfrage von SRF, Sicherheit habe höchste Priorität. «Snapchat ist ein Ort, der es Menschen ermöglicht, mit echten Freundinnen, Freunden und der Familie zu kommunizieren, ohne dabei Perfektion in den Vordergrund zu stellen. Wir arbeiten stetig daran, Snapchat zu verbessern und zu gewährleisten, dass die App für alle ein sicherer Ort des Austauschs bleibt. Dafür sorgen zusätzliche Jugendschutzmassnahmen und Sicherheitseinstellungen für Jugendliche, die sie beispielsweise vor unerwünschten Kontaktaufnahmen schützen und ihnen das Melden von Inhalten so einfach wie möglich gestalten. Zudem überprüfen wir alle Inhalte, bevor sie eine grosse Zielgruppe erreichen können, um potenziell schädliche Inhalte frühzeitig zu entdecken und deren Verbreitung zu unterbinden.»

Für die Autorin Devorah Heitner, die Vorträge und Bücher zum sicheren Umgang mit sozialen Medien verfasst, sei es entscheidend, mit Kindern darüber zu sprechen, was sie sehen. Sie relativiert. «Für manche Kinder sind es Inhalte, für andere, wie viel Zeit sie damit verbringen, oder sie sind aus ganz anderen Gründen depressiv. Es ist zu einfach, den sozialen Medien für alles die Schuld zu geben und nicht auch an Waffengewalt, die Pandemie oder den Klimawandel zu denken», sagt sie. Und doch müssten die Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen.

Es gibt immer noch viele schädliche Inhalte. Zum Beispiel erzählen mir viele Mädchen, sie erhalten Nachrichten von unheimlichen Männern.
Autor: Devorah Heitner Autorin

Ein kleiner Test etwa zeige, dass man ohne Altersüberprüfung ein Instagram-Profil eröffnen könnte. Auch seien viele Stellen bei der Überwachung von Inhalten gestrichen worden, sagt Heitner. «Es gibt immer noch viele schädliche Inhalte. Zum Beispiel erzählen mir viele Mädchen, sie erhalten Nachrichten von unheimlichen Männern.»

Es ist der stille Killer dieser Generation. Jemand muss sich wehren und die Unternehmen zur Rechenschaft ziehen.
Autor: Kathleen Spence Mutter von Alexis

Für die Familie Spence ist es wichtig, dafür zu kämpfen, dass nicht anderen passiert, was Alexis durchgemacht hat. «Es ist der stille Killer dieser Generation», sagt Kathleen Spence. «Jemand muss sich wehren und die Unternehmen zur Rechenschaft ziehen.» Die Plattformen zu verbieten, sei aber nicht das Ziel, finden die Spences. Alexis sagt, soziale Medien hätten durchaus auch gute Seiten. «Realistischerweise kann man es nicht verbieten. Die Plattformen sind auch gut, um einfach Leute online kennenzulernen und Freundschaften zu knüpfen. Ich kann auch mit Familienangehörigen in Kontakt bleiben, die weit weg wohnen», sagt sie. Und Vater Jeff Spence fügt hinzu: «Wir haben Autos nicht verboten, sondern sicherer gemacht. Machen wir auch die sozialen Medien sicherer, damit sie unseren Kindern nicht schaden.» Das wollen sie mit der Klage erreichen.

Alexis, ihr Assistenzhund und die Eltern von Alexis spazieren im Wald.
Legende: Alexis Spence studiert heute, wohnt aber noch zu Hause in einem Vorort von New York. Sie will Lehrerin werden. Auch ihre Eltern sind Lehrer. SRF/Viviane Manz

Alexis beschränkt sich heute auf wenige Apps für beschränkte Zeit. Sie sagt, sie wünschte, sie hätte damals gewusst, dass nicht alle so glücklich seien, wie sie sich auf Instagram darstellten. «Die Leute haben mehr Probleme, als du denkst.» Selbst wenn sie heute glücklich aussehe, sei sie nicht gefeit vor einem Rückfall. Auch wenn Draco nicht von ihrer Seite weicht, um genau das zu verhindern.

10 vor 10, 25.10.2023, 21:50 Uhr

Meistgelesene Artikel