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100 Hinrichtungen in Iran Teheran versucht Proteste mit Exekutionen zu ersticken

Das Regime in Teheran geht mit aller Härte gegen die Protestbewegung vor. Es verhängt und vollstreckt Todesurteile, verhaftet und foltert. Die blutige Unterdrückung wirkt: Die Proteste scheinen leiser geworden zu sein. Doch es gibt auch einen breit abgestützten Katalog an Forderungen an das Regime. Dies könnte den Protesten neuen Schwung verleihen, sagt Iran-Kennerin Natalie Amiri.

Natalie Amiri

Journalistin und Nahost-Expertin

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Die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri ist internationale Korrespondentin bei der ARD. Zuvor war sie fünf Jahre lang Studioleiterin der ARD in Teheran.

SRF News: Sind die vielen Hinrichtungen eine Antwort auf die seit September andauernden Proteste im Land?

Natalie Amiri: Definitiv. Vor allem werden mit den Hinrichtungen jetzt ethnische Minderheiten ins Visier genommen – Kurden oder Belutschen. Mindestens 27 von ihnen wurden nach sehr unfairen Prozessen hingerichtet. Die Kurden- und Belutschengebiete sind aber auch jene Regionen, in denen nach wie vor jeden Freitag gegen das Regime protestiert wird.

Schon 100 Hinrichtungen in diesem Jahr

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Laut Amnesty International sind seit Jahresbeginn in Iran rund 100 Menschen hingerichtet worden. Nach Recherchen der Menschenrechtsorganisation Abdorrahman Boroumand Center mit Sitz in den USA und von Amnesty ist die Zahl der Exekutionen im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen. Die Organisationen verzeichneten auch zahlreiche Fälle «schrecklicher sexueller Gewalt und anderer Folter».

Amnesty wirft dem iranischen Regime vor, die Todesstrafe als «Instrument der Unterdrückung» ethnischer Minderheiten einzusetzen. Demnach wurden seit Jahresbeginn mindestens ein iranischer Araber, 14 Kurden und 13 Angehörige der ethnischen Minderheit der Belutschen hingerichtet. Offizielle Zahlen zu Hinrichtungen gibt es nicht. Gemäss Amnesty wurden 2022 aber mindestens 250 Menschen hingerichtet, vor allem wegen Drogendelikten. Darunter waren auch vier Teilnehmer der jüngsten Protestwelle. Todesstrafen werden in Iran in der Regel durch Erhängen vollstreckt.

Wie steht es um die Proteste im restlichen Iran?

Insgesamt haben die Proteste abgenommen. Doch es gibt nach wie vor zivilen Ungehorsam, auch wurde etwa die Rede des Präsidenten zum Jahrestag der Revolution im TV gehackt. Doch das Regime geht weiter hart gegen jeden Protest vor, in den Gefängnissen wird gefoltert, es gibt Übergriffe auf Gefangene.

Frau mit Iran-Flagge auf der Wange und «Freiheit» auf der Stirn geschrieben.
Legende: Weltweit haben sich Tausende Menschen mit den Protestierenden in Iran solidarisiert – darunter viele Exil-Iranerinnen und Iraner. Wie hier bei einer Unterstützungsdemonstration für die Protestierenden in Iran in Berlin vom Oktober 2022. Keystone/Clemens Bilan

Trotzdem machen viele Menschen in Iran weiter, sie wollen das Regime weg haben. Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi sagte kürzlich, die Proteste seien wie eine Zugfahrt: Sie beschleunigten sich, würden wieder abbremsen, anhalten und wieder anfahren. Das Ziel sei dabei aber klar definiert: Regime Change.

In diesen Tagen wurden hunderte ungeklärte Vergiftungsfälle an iranischen Mädchenschulen publik. Was weiss man darüber?

Schon Ende November waren erste Fälle gemeldet worden. Doch jetzt gab es in mehr als 30 Städten offenbar Giftgasanschläge auf Mädchenschulen. Hunderte Mädchen liegen in Spitälern. Alle berichten von einem Geruch nach Mandarinen, Chlor oder Reinigungsmitteln, den sie wahrgenommen hatten, bevor Kopfschmerzen, Herzrasen und Erschöpfung bis zur Bewegungsunfähigkeit auftraten.

Die Eltern der Mädchen machen das Regime für die Anschläge verantwortlich – sie tragen eine ungeheure Wut in sich.

Die Eltern der Betroffenen machen das Regime für die Anschläge verantwortlich, sie tragen eine ungeheure Wut in sich. Das Regime selber weist die Schuld religiösen Extremisten zu, doch bislang ist niemand verhaftet worden. Dass es Mädchenschulen trifft, ist kein Zufall: Mädchen gehörten zu den am heftigsten protestierenden Gruppen in den vergangenen Monaten.

Es gibt auch ein Schreiben von rund 20 Verbänden und Organisationen in Iran an die Regierung. Worum geht es dabei?

Sie fordern in einem 12-Punkteplan Bürgerrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit, die Freilassung aller politischer Gefangenen, Gleichstellung. Es geht aber auch um sichere Arbeitsplätze oder Lohnerhöhungen.

Wenn sich nun beide Seiten zusammentun und Forderungen stellen, hat das durchaus politische Schlagkraft.

Die Inflationsrate liegt für Nahrungsmittel inzwischen bei 70 Prozent – und die Menschen sind seit September nicht nur für ihre bürgerlichen Freiheiten auf die Strasse gegangen, sondern auch gegen die miserablen wirtschaftlichen Bedingungen. Wenn sich nun die beiden Seiten zusammentun und politische Forderungen stellen, hat das durchaus politische Schlagkraft.

Schweizer Botschafterin in Falle getappt?

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Zum Fall der Schweizer Botschafterin, die kürzlich für weltweite Schlagzeilen sorgte, weil sie beim Besuch einer heiligen Stätte in Iran einen Tschador trug , sagt Amiri: «Die ausgeklügelte Propagandamaschinerie Iran denkt sich genau solche Bilder aus – und man fällt darauf herein. Man kann sehr schnell zum Spielball des Regimes werden. Auch der belgischen Aussenministerin ist es so ergangen, als sie sich kürzlich mit dem iranischen Aussenminister in Genf traf. Sie befolgte sein Verbot des Händeschüttelns mit einer Frau – obwohl sie sich vor einigen Monaten aus Solidarität mit den iranischen Frauen eine Haarsträhne abgeschnitten hatte. In den iranischen Medien wurden die News aus Genf gross ausgebreitet, während die belgische Aussenministerin in den sozialen Medien sehr viel Kritik einstecken musste.»

Tritt der Protest jetzt also in eine neue Phase ein?

Sie können für das Regime durchaus bedrohlich werden, wenn sich jetzt Gewerkschaften und Verbände zu den jungen Protestierenden hinzugesellen. Auch 1979 waren es die Öl- und Gasarbeiter, die gestreikt hatten und den Sturz des Schahs schliesslich mit herbeiführten. Allerdings muss man davon ausgehen, dass das Regime jetzt zurückschlagen würde.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Rendez-vous, 3.3.2023, 12:30 Uhr ; 

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