Zum Inhalt springen

20 Jahre nach Jugendgewalt Pariser Vorstädte wollen sich neu erfinden

Im Herbst 2005 brannten Frankreichs Vorstädte. Die ersten Funken schlugen im Norden von Paris. Zwanzig Jahre nach der Jugendgewalt wird dort, im ärmsten Département Frankreichs, an einer besseren Zukunft gebaut.

Vor dem Collège, der Mittelstufenschule, steht eine kleine Stele zum Gedenken an zwei Teenager. Sofiane Benzina erinnert sich bis heute an die Schreie der Eltern, als diese vor der Polizei in die Trafostation gelassen wurden und dort ihre toten Söhne sahen. Zyed und Bouna, die beiden Jungen aus der Nachbarschaft, waren in die gleiche Schule gegangen, kaum älter als Sofiane selbst. Ihr Tod wurde zum Auslöser der frankreichweiten Gewaltwelle.

Tod im Umspannwerk

Box aufklappen Box zuklappen

Zyed Benna (17) und Bouna Traoré (15) hatten sich einer Polizeikontrolle entzogen und versucht, sich zwischen den Hochspannungskabeln der Trafostation zu verstecken. Nach einer halben Stunde kamen sie einer Leitung zu nahe und wurden vom Stromstoss erschlagen. Später ergaben die Ermittlungen, dass sie keinen Diebstahl begangen hatten, wie anfangs behauptet. Und es zeigte sich, dass die Polizisten die Lebensgefahr erkannt hatten, in die sich die beiden Halbwüchsigen begeben hatten, aber nichts unternahmen, um sie zu warnen oder zu retten.

Lehrer Sofiane Benzina: «Heute gibt es weniger Radau»

Sofiane Benzina war damals zwölf. Er wohnte direkt neben dem Umspannwerk von Clichy-sous-Bois. Heute ist Sofiane Benzina Lehrer, unterrichtet selbst Teenager. Clichy-sous-Bois habe sich entwickelt, sagt Benzina. Auch die Atmosphäre im Schulhaus sei besser: Wenn er mit seiner eigenen Schulzeit vergleiche, sei es heute einfacher zu unterrichten, es gebe weniger Radau. «Die Schülerinnen und Schüler merken auch, dass wir im Lehrkörper an einem Strick ziehen.»

junger Mann mit kurzem Bart in braunem Pulli in einem Schulzimmer
Legende: Sofiane Benzina ist überzeugt: Die Jungen wünschten sich, dass die Dinge vorankämen. Auch wenn sie oft nicht wüssten, wie sie das anpacken sollten. SRF / Philipp Scholkmann

Benzina sieht zwar auch die Jungen, die im Unterricht abgehängt und vom schnellen Geld angezogen werden, das die Drogenkriminalität verspricht. Aber er betont die positiven Veränderungen in seiner Banlieue-Gemeinde, hält sich daran fest.

«Banlieue-Revolte» 2005

Box aufklappen Box zuklappen
Menschen vor brennendem Auto und Flammen in der Nacht.
Legende: Jugendliche Randalierer fackelten Autos und Linienbusse ab, steckten Postgebäude, Gemeindezentren und Polizeidienststellen in Brand. EPA/ERIC TRAVERS / PASCAL LE FLOCH ©Sipa Press

Frankreich erlebte im Herbst 2005 eine beispiellose Welle von Jugendgewalt. Sie begann im Norden von Paris. Doch bald meldeten von Marseille bis Lille, von Strassburg bis Rennes Dutzende Städte anhaltende nächtliche Ausschreitungen.

Über das ganze Land wurde der Notstand verhängt, das hatte es seit dem Algerienkrieg vierzig Jahre zuvor nicht mehr gegeben. Zehntausend Sicherheitskräfte wurden mobilisiert und brachten doch zwei Wochen lang die Lage nicht unter Kontrolle.

Innenminister Nicolas Sarkozy profilierte sich als Hardliner für die Präsidentschaftswahlen. Die Randalierer in der Banlieue nannte er «Abschaum».

Teenager Adam und Abdelkader: «Man kann nicht Bibliotheken abfackeln»

Zwei Männer posieren draussen in sportlicher Kleidung.
Legende: Die beiden Teenager Adam und Abdelkader sagen: Clichy ist ganz okay. Aber ihre Kinder würden sie hier nicht grossziehen wollen. SRF / Philipp Scholkmann

Adam (19) und Abdelkader (18) suchen den Einstieg ins Berufsleben und stehen vor dem Arbeitsamt. Sie blicken schräg zum Polizeikommissariat hinüber. Die Polizei mache ihre Arbeit, diese sei schwierig genug. «Aber manche Polizisten gehen dabei zu weit», sagt Adam. Von beiden Seiten werde der Hass geschürt.

Vor zwanzig Jahren wurde der Polizei vorgeworfen, sie behandle die Banlieue wie eine fremde Welt. Sie rücke schwer bewaffnet in die Hochhausschluchten der sogenannten «Cités» vor und ziehe sich wieder zurück, was das Risiko von Fehlkalkulationen verstärke. Das Polizeikommissariat von Clichy ist ein Neubau zur Strasse, fast fensterlos, mit markanter brauner Verschalung. Er wurde unmittelbar nach der Gewaltwelle von 2005 bewilligt. Seither ist die Polizei mit ihrem Kommissariat mittendrin.

Städtische Strassenszene mit modernen Gebäuden und Fussgängerüberweg.
Legende: Das neue Polizeigebäude steht inmitten der Hochhauslandschaft von Clichy. SRF / Philipp Scholkmann

Das Verhältnis bleibt dennoch angespannt. Im Sommer 2023, nach einer Polizeiaktion in Nanterre im Westen der Hauptstadt, gab es wieder Unruhen – weit über Nanterre hinaus. Hier in Clichy setzten einige damals die Bibliothek in Flammen. Sogar das Rathaus wurde Ziel eines Brandanschlags, bestätigt Abdelkader. Die beiden sagen, sie verstünden die Wut der Jungen, aber verurteilten die Brandstiftungen. «Man kann nicht Bibliotheken abfackeln. Unsere kleinen Schwestern und Brüder gehen dorthin. Oder das Rathaus, meine Mutter braucht von dort vielleicht Dokumente», sagt Adam.

Gewaltwelle 2023

Box aufklappen Box zuklappen

Nahel Merzouk (17) war in Nanterre ohne Ausweis Auto gefahren und hatte offensichtlich versucht, sich einer Polizeikontrolle zu entziehen. Er wurde erschossen. Ein Video legt nahe, dass der Polizist bei der Kontrolle am Wagenfenster aus wenigen Zentimetern Distanz einfach abdrückte, als sich der Wagen plötzlich wieder in Bewegung setzte.

Statistisch gesehen sitzen die Dienstwaffen in Frankreich lockerer, es werden mehr Menschen bei Polizeieinsätzen getötet als in anderen europäischen Ländern. Daran hat sich nichts geändert. Gleichzeitig werden die Randalierer jünger, gewaltbereiter. Und Plünderungen nehmen zu.

Stadtpräsident Klein: «Niemand konnte mehr so tun, als gäbe es die Zonen voller Armut nicht»

Mann mit Brille und Bart lächelt sitzend vor buntem Hintergrund.
Legende: Olivier Klein glaubt an eine rosigere Zukunft für Clichy-sous-Bois. Er hat sich auch schon als Minister für die Vorstadtpolitik eingesetzt. SRF / Philipp Scholkmann

Olivier Klein ist der Stadtpräsident von Clichy-sous-Bois. Er kämpfe dafür, dass die Gemeinde seiner Kindheit eine normale Stadt werde, «eine, in der man sich wohlfühlt und in die man abends von der Arbeit gern nach Hause kommt.»

Klein ist selbst im berüchtigtsten Quartier von Clichy-sous-Bois aufgewachsen. «Chêne Pointu» heisst die Hochhaussiedlung. Er habe dort eine glückliche Kindheit verbracht. Seine Eltern zogen Mitte der 60er-Jahre in die Agglomerationsgemeinde, 15 Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum. Hier draussen waren die Wohnungen neu und doch erschwinglich. Auch das Versprechen eines direkten Autobahnanschlusses hatte die Familie hergelockt, sagt der 58-Jährige.

Strassenszene mit bemaltem Gebäude und Graffiti.
Legende: In der Hochhaussiedlung «Chêne Pointu» sind einige der ärmsten Bewohnerinnen und Bewohner von Clichy-sous-Bois zu Hause. SRF / Philipp Scholkmann

Doch die Autobahn kam nie. Die damalige Neubausiedlung, abgeschnitten von Verkehr und politischer Unterstützung, verkam über die Jahrzehnte zum Ghetto.

Das Département Seine-Saint-Denis, obwohl unmittelbar an die Kernstadt Paris angrenzend, ist das ärmste Département Frankreichs und Clichy-sous-Bois eine der ärmsten Gemeinden im Département. Daran hat sich nichts geändert.

Im Reich der «Schlafhändler»

Box aufklappen Box zuklappen

Frankreich bekämpfte die Wohnungsnot in den Jahren des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg mit modernistischem Gestaltungswillen. Vielerorts an der Peripherie der grossen Städte entstanden auf der grünen Wiese Hochhausquartiere, gedacht für den Mittelstand.

Erstellt wurden sie seriell und billig – entsprechend rasch kamen sie in die Jahre. Wer wegkonnte, verliess die Plattenbauten. Es kamen Industriearbeiter und Kriegsvertriebene aus ehemaligen Kolonien Frankreichs im Maghreb und in Westafrika mit ihren nachgezogenen Familien. Und immer neue Gruppen von Migrantinnen und Migranten – in der Hoffnung auf bessere Perspektiven für sich oder ihre Kinder.

Mit zunehmender Krise traten Spekulanten auf den Plan, sogenannte Schlafhändler («Marchands de Sommeil»), die aus den klammen Mieterinnen und Mietern und ihrer Sozialhilfe herauspressten, was noch zu holen war, während sie die Wohnungen weiter verlottern liessen.

Klein hat sich im Lauf seiner politischen Karriere von der kommunistischen Partei Richtung politische Mitte bewegt, unterstützte zuletzt Präsident Emmanuel Macron. Ein Jahr lang war er auch dessen Minister für die sogenannte «Politique de la Ville». Unter diesem Begriff wird die gesamte Vorstadtpolitik zusammengefasst; betroffen sind frankreichweit mehr als eintausend sogenannte «sensible» Quartiere.

Was hat sich mit der Gewaltwelle von 2005 verändert? «Die Wahrnehmung», sagt Klein. Die Republik war schockiert. «Niemand konnte mehr so tun, als existierten diese peripheren Zonen voller Armut und aufgestauter Probleme nicht.» Die Politik gab sich einen Ruck. Die städtebauliche Erneuerung wurde zur Priorität erklärt. Der soziale Teil aber ist Stückwerk geblieben, räumt der Stadtpräsident und ehemalige Minister ein.

Der Hauptriegel von «Chêne Pointu» ist inzwischen eine leere Hülle. Er soll demnächst Neubauten mit humaneren Dimensionen weichen – ohne vermüllte Treppenhäuser, verklemmte Aufzüge und Ratten im Keller.

In der Nähe stehen schon die Baukrane. Ein neues Stadtzentrum mit Einkaufsläden soll heranwachsen, die neue Hauptachse heisst «Avenue der Zukunft», auf ihr rollt bereits eine Strassenbahn.

In drei Jahren wird auch die U-Bahn bis nach Clichy-sous-Bois verlängert. Der Anschluss ans Pariser Metronetz werde eine «Revolution», sagt Klein. Mit der neuen Linie 16 werde die abgelegene Vorstadt auf zwanzig Minuten an die Kernstadt Paris heranrücken, die Zahl der Arbeitsplätze in Pendeldistanz zu Clichy-sous-Bois werde sich so verzehnfachen.

Die Banlieue von Paris ist ein Flickenteppich. Industriebrachen, Gleisfelder, Gewerbezonen, da und dort ein Rest eines alten Dorfkerns, der an eine Zeit erinnert, als die französische Hauptstadt noch nicht zur 13-Millionen-Agglomeration ausgewuchert war. Dazwischen diese «sensiblen» Hochhaussiedlungen, die die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, umgeben von einem Meer von Reihenhäuschen – kein einfaches Nebeneinander.

Baustellenschild für Schulerweiterung neben Wohngebäude.
Legende: Eine Stadt im Umbruch: Links zeigt ein Schild die geplante Schule, rechts ein heruntergekommener Plattenbau. SRF / Philipp Scholkmann

Auch das benachbarte Aulnay-sous-Bois war ein Brennpunkt der Jugendgewalt von 2005. Vor ein paar Monaten wurde hier ein Gemeindeangestellter mit einem Molotowcocktail beworfen, als er an der Kreuzung eine Videokamera installieren wollte.

Polarisierte Politik

Box aufklappen Box zuklappen

Nicolas Sarkozy nutzte 2005 die Jugendgewalt, um sich als Hardliner für die Präsidentschaftswahlen in Position zu bringen. Heute geht es immer stärker um die Frage nach der französischen Identität. Das Rassemblement National macht daraus seine Kernbotschaft. Jordan Bardella, der Präsident der Rechtsaussenbewegung, ist selbst in einer Cité im Département Seine-Saint-Denis aufgewachsen. Er spricht von Parallelgesellschaften, die entstanden seien, nicht assimilationsfähig oder willig, und warnt düster vor dem Szenario eines Bürgerkriegs, wenn die Immigration aus muslimischen Ländern nicht drastisch eingeschränkt werde.

Instrumentalisiert werden die Vorstädte auch von der Linken. Heute hat LFI, La France Insoumise, im Norden von Paris die stärkste Präsenz. Die linkspopulistische Bewegung spricht von rassistischen Reflexen der ehemaligen Kolonialmacht, von anhaltender Diskriminierung am Arbeitsplatz, fehlender Chancengleichheit als dem Kern des Übels.

Es gibt Strassenzüge, die an die Misere von 2005 erinnern. Junge Männer stehen auffällig unauffällig vor heruntergekommenen Wohntürmen. Unbestritten ist: Die Drogenkriminalität generiert im Département Seine-Saint-Denis einen Milliardenumsatz und beschäftigt viele Leute. Schlagzeilen machen zunehmend auch sogenannte «Rixes», blutige Abrechnungen unter Dealern. Davon alarmiert, will die Regierung nun mehr Mittel einsetzen, um gegen die Drogenmafias vorzugehen, die immer dreister agieren.

Insgesamt aber hat sich die Hochhaussiedlung im Norden von Aulnay stark verändert. Die städtebauliche Erneuerung ist hier schon weit fortgeschritten.

Bewohnerin Aissa Sago: «Manche, die wegzogen, wollen nun zurückkommen»

Frau steht lächelnd vor einem Tresen in einer Gastronomie.
Legende: Aissa Sago ist verantwortlich für den Mittagstisch im Kulturzentrum und glaubt an eine bessere Zukunft des Quartiers. SRF / Philipp Scholkmann

Der «Galion», ein gewaltiger Wohnriegel, fast dreihundert Meter lang, war das Symbol der Siedlung: baufällig, von Graffitis überzogen. Der Riegel ist verschwunden, er hat kleineren Wohneinheiten Platz gemacht. Auf dem grossen Platz ein lebhafter Wochenmarkt, drumherum eine Metzgerei, eine Apotheke, ein Restaurant, ein Kleiderladen. Etwas zurückversetzt ein Quartierzentrum mit Theaterveranstaltungen und einem Mittagstisch. Aissa Sago betreibt ihn.

Sie freut sich über die Belebung ihres Quartiers. «Manche, die wegzogen aus der damaligen Tristesse, wollen nun zurückkommen.» Sago gründete vor zwanzig Jahren eine kleine Hilfsorganisation mit dem Ziel, Migrantinnen zu ermächtigen, sodass sie sich im fremden Alltag zurechtfinden und die Autorität ihren Kindern gegenüber nicht verlieren. Die Organisation begann, Frauen bei Behördengängen, Arztbesuchen, schwierigen Einkäufen zu unterstützen. Bald kam eine Hausaufgabenhilfe hinzu. Seither ist die «Association Femmes Relais» mächtig gewachsen. Hinzu kamen der Mittagstisch im Kulturzentrum sowie ein Catering und ein Lebensmittelladen mit stark herabgesetzten Preisen.

Dass die Hilfsorganisation so gewachsen ist, ist eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: «Die Bedürfnisse sind nicht kleiner geworden in den zwanzig Jahren», sagt Aissa Sago. Die gute: Die Unterstützung der öffentlichen Hand sei weniger sprunghaft. Wo früher Hilfsprojekte im Rhythmus der Wahlen immer wieder abgewürgt und neu erfunden wurden, werde heute etwas langfristiger budgetiert. «Wir haben dazugelernt», sagt die 54-Jährige.

Rendez-vous, 6.5.2025, 12:30 Uhr;brus

Meistgelesene Artikel