Vor dem Collège, der Mittelstufenschule, steht eine kleine Stele zum Gedenken an zwei Teenager. Sofiane Benzina erinnert sich bis heute an die Schreie der Eltern, als diese vor der Polizei in die Trafostation gelassen wurden und dort ihre toten Söhne sahen. Zyed und Bouna, die beiden Jungen aus der Nachbarschaft, waren in die gleiche Schule gegangen, kaum älter als Sofiane selbst. Ihr Tod wurde zum Auslöser der frankreichweiten Gewaltwelle.
Lehrer Sofiane Benzina: «Heute gibt es weniger Radau»
Sofiane Benzina war damals zwölf. Er wohnte direkt neben dem Umspannwerk von Clichy-sous-Bois. Heute ist Sofiane Benzina Lehrer, unterrichtet selbst Teenager. Clichy-sous-Bois habe sich entwickelt, sagt Benzina. Auch die Atmosphäre im Schulhaus sei besser: Wenn er mit seiner eigenen Schulzeit vergleiche, sei es heute einfacher zu unterrichten, es gebe weniger Radau. «Die Schülerinnen und Schüler merken auch, dass wir im Lehrkörper an einem Strick ziehen.»
Benzina sieht zwar auch die Jungen, die im Unterricht abgehängt und vom schnellen Geld angezogen werden, das die Drogenkriminalität verspricht. Aber er betont die positiven Veränderungen in seiner Banlieue-Gemeinde, hält sich daran fest.
Teenager Adam und Abdelkader: «Man kann nicht Bibliotheken abfackeln»
Adam (19) und Abdelkader (18) suchen den Einstieg ins Berufsleben und stehen vor dem Arbeitsamt. Sie blicken schräg zum Polizeikommissariat hinüber. Die Polizei mache ihre Arbeit, diese sei schwierig genug. «Aber manche Polizisten gehen dabei zu weit», sagt Adam. Von beiden Seiten werde der Hass geschürt.
Vor zwanzig Jahren wurde der Polizei vorgeworfen, sie behandle die Banlieue wie eine fremde Welt. Sie rücke schwer bewaffnet in die Hochhausschluchten der sogenannten «Cités» vor und ziehe sich wieder zurück, was das Risiko von Fehlkalkulationen verstärke. Das Polizeikommissariat von Clichy ist ein Neubau zur Strasse, fast fensterlos, mit markanter brauner Verschalung. Er wurde unmittelbar nach der Gewaltwelle von 2005 bewilligt. Seither ist die Polizei mit ihrem Kommissariat mittendrin.
Das Verhältnis bleibt dennoch angespannt. Im Sommer 2023, nach einer Polizeiaktion in Nanterre im Westen der Hauptstadt, gab es wieder Unruhen – weit über Nanterre hinaus. Hier in Clichy setzten einige damals die Bibliothek in Flammen. Sogar das Rathaus wurde Ziel eines Brandanschlags, bestätigt Abdelkader. Die beiden sagen, sie verstünden die Wut der Jungen, aber verurteilten die Brandstiftungen. «Man kann nicht Bibliotheken abfackeln. Unsere kleinen Schwestern und Brüder gehen dorthin. Oder das Rathaus, meine Mutter braucht von dort vielleicht Dokumente», sagt Adam.
Statistisch gesehen sitzen die Dienstwaffen in Frankreich lockerer, es werden mehr Menschen bei Polizeieinsätzen getötet als in anderen europäischen Ländern. Daran hat sich nichts geändert. Gleichzeitig werden die Randalierer jünger, gewaltbereiter. Und Plünderungen nehmen zu.
Stadtpräsident Klein: «Niemand konnte mehr so tun, als gäbe es die Zonen voller Armut nicht»
Olivier Klein ist der Stadtpräsident von Clichy-sous-Bois. Er kämpfe dafür, dass die Gemeinde seiner Kindheit eine normale Stadt werde, «eine, in der man sich wohlfühlt und in die man abends von der Arbeit gern nach Hause kommt.»
Klein ist selbst im berüchtigtsten Quartier von Clichy-sous-Bois aufgewachsen. «Chêne Pointu» heisst die Hochhaussiedlung. Er habe dort eine glückliche Kindheit verbracht. Seine Eltern zogen Mitte der 60er-Jahre in die Agglomerationsgemeinde, 15 Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum. Hier draussen waren die Wohnungen neu und doch erschwinglich. Auch das Versprechen eines direkten Autobahnanschlusses hatte die Familie hergelockt, sagt der 58-Jährige.
Doch die Autobahn kam nie. Die damalige Neubausiedlung, abgeschnitten von Verkehr und politischer Unterstützung, verkam über die Jahrzehnte zum Ghetto.
Das Département Seine-Saint-Denis, obwohl unmittelbar an die Kernstadt Paris angrenzend, ist das ärmste Département Frankreichs und Clichy-sous-Bois eine der ärmsten Gemeinden im Département. Daran hat sich nichts geändert.
Klein hat sich im Lauf seiner politischen Karriere von der kommunistischen Partei Richtung politische Mitte bewegt, unterstützte zuletzt Präsident Emmanuel Macron. Ein Jahr lang war er auch dessen Minister für die sogenannte «Politique de la Ville». Unter diesem Begriff wird die gesamte Vorstadtpolitik zusammengefasst; betroffen sind frankreichweit mehr als eintausend sogenannte «sensible» Quartiere.
Was hat sich mit der Gewaltwelle von 2005 verändert? «Die Wahrnehmung», sagt Klein. Die Republik war schockiert. «Niemand konnte mehr so tun, als existierten diese peripheren Zonen voller Armut und aufgestauter Probleme nicht.» Die Politik gab sich einen Ruck. Die städtebauliche Erneuerung wurde zur Priorität erklärt. Der soziale Teil aber ist Stückwerk geblieben, räumt der Stadtpräsident und ehemalige Minister ein.
Der Hauptriegel von «Chêne Pointu» ist inzwischen eine leere Hülle. Er soll demnächst Neubauten mit humaneren Dimensionen weichen – ohne vermüllte Treppenhäuser, verklemmte Aufzüge und Ratten im Keller.
In der Nähe stehen schon die Baukrane. Ein neues Stadtzentrum mit Einkaufsläden soll heranwachsen, die neue Hauptachse heisst «Avenue der Zukunft», auf ihr rollt bereits eine Strassenbahn.
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Bild 1 von 3. Seit fünf Jahren ist das Tram in Betrieb, es schliesst Clichy ans S-Bahn-Netz an und wird rege genutzt. Bildquelle: SRF / Philipp Scholkmann.
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Bild 2 von 3. An der «Avenue der Zukunft» wird an einer neuen Geschäftsstrasse gebaut. Bildquelle: SRF / Philipp Scholkmann.
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Bild 3 von 3. Eine der Neubauten, die für das neue Gesicht von Clichy stehen: die Musikschule. Bildquelle: SRF / Philipp Scholkmann.
In drei Jahren wird auch die U-Bahn bis nach Clichy-sous-Bois verlängert. Der Anschluss ans Pariser Metronetz werde eine «Revolution», sagt Klein. Mit der neuen Linie 16 werde die abgelegene Vorstadt auf zwanzig Minuten an die Kernstadt Paris heranrücken, die Zahl der Arbeitsplätze in Pendeldistanz zu Clichy-sous-Bois werde sich so verzehnfachen.
Die Banlieue von Paris ist ein Flickenteppich. Industriebrachen, Gleisfelder, Gewerbezonen, da und dort ein Rest eines alten Dorfkerns, der an eine Zeit erinnert, als die französische Hauptstadt noch nicht zur 13-Millionen-Agglomeration ausgewuchert war. Dazwischen diese «sensiblen» Hochhaussiedlungen, die die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, umgeben von einem Meer von Reihenhäuschen – kein einfaches Nebeneinander.
Auch das benachbarte Aulnay-sous-Bois war ein Brennpunkt der Jugendgewalt von 2005. Vor ein paar Monaten wurde hier ein Gemeindeangestellter mit einem Molotowcocktail beworfen, als er an der Kreuzung eine Videokamera installieren wollte.
Es gibt Strassenzüge, die an die Misere von 2005 erinnern. Junge Männer stehen auffällig unauffällig vor heruntergekommenen Wohntürmen. Unbestritten ist: Die Drogenkriminalität generiert im Département Seine-Saint-Denis einen Milliardenumsatz und beschäftigt viele Leute. Schlagzeilen machen zunehmend auch sogenannte «Rixes», blutige Abrechnungen unter Dealern. Davon alarmiert, will die Regierung nun mehr Mittel einsetzen, um gegen die Drogenmafias vorzugehen, die immer dreister agieren.
Insgesamt aber hat sich die Hochhaussiedlung im Norden von Aulnay stark verändert. Die städtebauliche Erneuerung ist hier schon weit fortgeschritten.
Bewohnerin Aissa Sago: «Manche, die wegzogen, wollen nun zurückkommen»
Der «Galion», ein gewaltiger Wohnriegel, fast dreihundert Meter lang, war das Symbol der Siedlung: baufällig, von Graffitis überzogen. Der Riegel ist verschwunden, er hat kleineren Wohneinheiten Platz gemacht. Auf dem grossen Platz ein lebhafter Wochenmarkt, drumherum eine Metzgerei, eine Apotheke, ein Restaurant, ein Kleiderladen. Etwas zurückversetzt ein Quartierzentrum mit Theaterveranstaltungen und einem Mittagstisch. Aissa Sago betreibt ihn.
Sie freut sich über die Belebung ihres Quartiers. «Manche, die wegzogen aus der damaligen Tristesse, wollen nun zurückkommen.» Sago gründete vor zwanzig Jahren eine kleine Hilfsorganisation mit dem Ziel, Migrantinnen zu ermächtigen, sodass sie sich im fremden Alltag zurechtfinden und die Autorität ihren Kindern gegenüber nicht verlieren. Die Organisation begann, Frauen bei Behördengängen, Arztbesuchen, schwierigen Einkäufen zu unterstützen. Bald kam eine Hausaufgabenhilfe hinzu. Seither ist die «Association Femmes Relais» mächtig gewachsen. Hinzu kamen der Mittagstisch im Kulturzentrum sowie ein Catering und ein Lebensmittelladen mit stark herabgesetzten Preisen.
Dass die Hilfsorganisation so gewachsen ist, ist eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: «Die Bedürfnisse sind nicht kleiner geworden in den zwanzig Jahren», sagt Aissa Sago. Die gute: Die Unterstützung der öffentlichen Hand sei weniger sprunghaft. Wo früher Hilfsprojekte im Rhythmus der Wahlen immer wieder abgewürgt und neu erfunden wurden, werde heute etwas langfristiger budgetiert. «Wir haben dazugelernt», sagt die 54-Jährige.