Die Küste ist weit weg, doch Alex Kolker springt über Bord – und steht nur bis zu den Schienbeinen im trüben, warmen Meer. «Wir stehen auf dem neuesten Land Nordamerikas», sagt der Küsten- und Klimaforscher. «Fühlen Sie, wie fest der Sand ist.» Bei Ebbe sei er hier schon Fahrrad gefahren, erzählt Richie Blink. Auf dieser Sandbank liesse sich sogar ein kleines Flugzeug landen, meint der Bootskapitän und Umweltaktivist, der die Gegend kennt wie seine Westentasche.
Kolker und Blink sind unterwegs im Bird’s Foot Delta, dem aktiven Mississippi-Delta, das wie ein Vogelfuss in den Golf von Mexiko hinausragt. Hier enden die Deiche des Mississippi – zuerst am Ost-, flussabwärts auch am Westufer. Über viele Arme ergiesst sich der Strom ins Meer. Am Ostufer hat sich ein Seitenarm in den letzten Jahren stark vergrössert: durch den Neptune Pass wird Sediment aus dem riesigen Einzugsgebiet hinaus geschwemmt.
«Hier liegen kleine Teile von Iowa oder Missouri», sagt Kolker. Der Strom zeigt, was er kann, wenn man ihn lässt: Er bildet neues Land, wo es bitter nötig ist.
Eine Küste versinkt
Der Mississippi suchte sich über die Jahrtausende immer wieder einen neuen Lauf. Wie ein Gartenschlauch, der sich über den Boden windet, verteilte er Sediment und schuf eines der grössten Deltas der Welt. Doch der mächtige Mississippi bildet nicht mehr Land, wie er es einst tat: Das Delta zählt heute zu den Gebieten, die am schnellsten im Meer versinken.
Der 39-jährige Richie Blink erinnert sich: «Geniesse es, solange du kannst, denn das hier verschwindet», habe sein Vater, ein Fischer, gesagt, als er mit seinem Sohn durch diese Feuchtgebiete gefahren sei. «Mein Vater hatte recht», sagt Blink, während er mit geübtem Blick das Boot steuert.
Vom Geologischen Dienst der USA heisst es: Allein von 1932 bis 2016 sei in Louisiana etwa ein Viertel des Küstenlandes verloren gegangen, was fast der Fläche des Kantons Wallis entspricht. Blink erzählt von über 30 Orten, deren Namen schon von den Seekarten entfernt worden seien, weil sie untergangen seien. Bedroht sind die Küstengemeinden Louisianas mit ihrer wichtigen, traditionsreichen Fischerei – und ein beeindruckendes Ökosystem aus Sümpfen, Marschland und Wasserarmen.
Im Süden der USA ist der Meeresspiegel im letzten Jahrzehnt um etwa einen Zentimeter pro Jahr angestiegen.
Die Deiche, die den Mississippi von den Feuchtgebieten abschneiden, sind Teil des Problems. «Das Sediment, das die Feuchtgebiete bildete, bleibt aus», erklärt Wissenschaftler Kolker, der seit fast zwei Jahrzehnten in Süd-Louisiana arbeitet. «Es wurden zudem viele Kanäle gezogen, für die Öl- und Gasförderung und für die Schifffahrt.»
Wegen der Kanäle erodierten die Feuchtgebiete und es dringe Salzwasser ein. Der Mensch trage dazu bei, dass sich das Land absenke, indem er Öl und Gas aus dem Boden fördere. Dazu komme der Anstieg des Meeresspiegels, verursacht durch den Klimawandel. Hier schreite der Anstieg rascher voran als im globalen Schnitt. «Im Süden der USA ist der Meeresspiegel im letzten Jahrzehnt um etwa einen Zentimeter pro Jahr angestiegen», so Kolker.
Ein Rückzugsgefecht gegen das Meer
Im LSU Center for River Studies, in Louisianas Hauptstadt Baton Rouge, zeigt Greg Grandy auf eine Karte des Deltas. «Die rot gefärbten Gebiete verschwinden in den nächsten 50 Jahren, wenn wir nichts tun, wenn wir von häufigeren Hurrikanen und einem stärker steigenden Meeresspiegel ausgehen.» Die Küste ist weitgehend rot; nur wenige grüne Flecken zeigen, wo noch Land entsteht.
Es verschwindet auch ein Hurrikan-Schutz: Feuchtgebiete bremsen Stürme und dämpfen Sturmfluten. 2005 zeigte Hurrikan «Katrina», welche Zerstörung möglich ist: New Orleans wurde überflutet, weit über 1000 Menschen starben.
Wir haben nicht genug Geld, Sedimente und Ressourcen, um alle Menschen überall zu schützen.
Grandy ist ein erfahrener Experte der Coastal Protection and Restoration Agency (CPRA), die damals gegründet wurde. Louisianas Küstenschutzbehörde stemmt sich dem Meer entgegen, doch trotz zahlreicher Projekte geht sie davon aus, dass sich der Landverlust in den nächsten 50 Jahren nur etwas bremsen lässt. «Wir haben nicht genug Geld, Sedimente und Ressourcen, um alle Menschen überall zu schützen», sagt Grandy. Ziel sei es, eine möglichst funktionsfähige Küste zu erhalten.
Der Mississippi ist dafür zentral. Doch ein Modell des Flusses zeigt das Problem: Der Mini-Mississippi transportiert schwarzes Kunstsediment. Viel davon wird an der Mündung hinausgespült, in tiefes Meerwasser, wo kein Land entsteht. Diversionen, also Umleitungen von Flusswasser und Sediment, sollten helfen.
Am Westufer des Mississippi war ein besonders ambitioniertes Projekt geplant: Wasser sollte kontrolliert ins Barataria-Becken südwestlich von New Orleans geleitet werden – bis zu viermal so viel Wasser, wie die Aare im Schnitt an der Mündung zum Rhein führt. Sedimente und Nährstoffe hätten die Feuchtgebiete versorgen und neues Land bilden sollen.
Der Widerstand des Austernfischers
Bei der Fahrt zurück ins Vogelfussdelta wird klar: Nur ein schmaler Landstreifen klammert sich zwischen den Deichen an den Mississippi. Vielerorts liegt er unter dem Meeresspiegel, und er reicht weit ins Meer hinaus, wo er den Elementen ausgesetzt ist.
«Katrina» sei mit ihrem Auge genau hier vorbeigezogen, sagt Mitch Jurisich, Austernfischer in dritter Generation. «Das Wasser stand acht Meter hoch», erzählt er und zeigt auf eine katholische Kirche. «Sie war eines der wenigen Gebäude, das noch stand – schwer beschädigt, vom Fundament gehoben.» Das Wetter hier draussen werde extremer.
Doch nicht nur Hurrikane trafen seine Branche: Nach der Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon, keine 80 Kilometer vor der Flussmündung, stand sein Geschäft über ein Jahr lang still.
Ich habe diese Küste beobachtet – und ich habe beobachtet, wie sie verschwindet.
Jurisich erzählt, wie er als Kind die Sommer auf den Bayous verbrachte, auf den trägen Wasserarmen, die sich durch die Feuchtgebiete ziehen. Das sei ein Paradies gewesen, in dem er meilenweit laufen und allerlei Getier habe fangen können, erinnert sich der 62-Jährige. «Ich habe diese Küste beobachtet – und ich habe beobachtet, wie sie verschwindet.»
Trotzdem lehnt Jurisich die grosse Umleitung von Flusswasser, die das Feuchtgebiet hätten versorgen sollen, ab. Fischer hätten gelernt, sich anzupassen, sagt er, doch der plötzliche Zufluss von Süsswasser würde den Salzgehalt so stark senken, dass die Austern sterben würden.
Er war nicht der Einzige, der gegen die Diversion kämpfte – auch Shrimpsfischer fürchteten um ihre Existenz. Unterstützung erhielten sie von Gouverneur Jeff Landry. Die wachsenden Kosten des Milliardenprojekts seien nicht mehr zu stemmen, erklärte der Republikaner; die Diversion bedrohe Kultur und Fischerei an Louisianas Küste. Im Juli wurde das Projekt beendet. Zwar wurde eine kleinere Diversion in Aussicht gestellt, doch auch ein weiteres Projekt auf der anderen Flussseite wurde später gestoppt.
Leben wo das Land verschwindet
Befürworter von Sedimentumleitungen verweisen auf den Neptune Pass. Der Seitenarm des Mississippi bilde das grösste neue Flussdelta Nordamerikas, erklärt Wissenschaftler Alex Kolker. Auf den Sandbänken vor der Küste entstehe Marschland, sobald Pflanzen Wurzeln schlagen würden.
In Louisiana herrscht Einigkeit, dass die üppigen Feuchtgebiete schützenswert sind – Uneinigkeit besteht über das wie. Grosse Flussumleitungen sollten das Meer wenigstens etwas zurückdrängen, doch Louisiana scheint sich von diesen Projekten abzuwenden.
Richie Blink hat dafür kein Verständnis. Er vermutet, weitere Gründe hätten eine Rolle gespielt: «Bei grossen Öl- und Gasanlagen flussabwärts gab es wohl die Sorge, Sediment könnte Kanäle und Pipelines verstopfen.» Früher brachte Blink Arbeiter und Material zu Offshore-Plattformen, heute bietet der Umweltaktivist Bootstouren durchs Delta an, das er bewahren will.
Doch nicht nur der Landverlust bedroht seine Heimat, sondern auch die Hurrikane. Der Klimawandel dürfte diese Gefahr verstärken. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Sturm vorbeiziehe, so Blink. Schon nach «Katrina» seien zwei Drittel der Bewohner nicht zurückgekehrt. Hier ist es schwierig und teuer, an Versicherungen für Häuser zu kommen. Neubauten müssen um mehrere Meter erhöht errichtet werden. «Wir alle wissen, dass wir mehr Land verlieren als gewinnen», sagt Alex Kolker. «Die Hoffnung ist, dass genug übrigbleibt, um hier langfristig zu leben.»
Autor: Andrea Christen