Die Wunden auf Aminas Gesicht sind verheilt. Wenn sie betet, schliesst sie die Augen. Diese füllen sich sofort mit Tränen, als Amina nach dem Gebet über ihre tote Mutter spricht. Wenn sie ihre Mutter vermisse, wende sie sich an Gott, sagt die 16-jährige Muslimin: «Seit der Katastrophe bete ich fünf Mal am Tag. Ich sage zu Gott: ‹Bitte, empfange meine Mutter, meine Grossmutter und Nichten.› Ich glaube, sie sind jetzt im Himmel.»
Sieben Familienmitglieder wurden von der Erde mitgerissen und begraben, als diese im vergangenen September wie eine gigantische Welle über Aminas Dorf rollte und die Häuser komplett verschlang. Bodenverflüssigung nannten dies Experten. Amina und ihr Vater Asmudin überlebten auf wundersame Weise. Doch es blieb ihnen nichts.
Das Radio und Gott halfen
Nun, sechs Monate später, führt Bauer Asmudin durch das neue Lager aus Spanplatten, das ihnen die Regierung gebaut hat. Manche Bewohner haben kleine Gärten angelegt, Frauen waschen Kleider an einem Brunnen.
In Asmudins Hütte läuft Musik. Das Radio und Gott hätten ihm durch die besonders dunklen Stunden geholfen, sagt der kleine, sehnige Mann. «Wenn ich nicht schlafen kann und meine Frau vermisse, mache ich das Radio an, um mich abzulenken. Doch ich weiss: Durch die Katastrophe hat mir Gott die Möglichkeit gegeben, ein besserer Muslim und besserer Mensch zu werden.»
Nicht Zwist, sondern Eintracht
Wenn die Muezzins heute in Palu zum Gebet rufen, gehen die Menschen in die Moschee. Islamische Organisationen verstanden ihrerseits, wie empfänglich die Überlebenden für religiöse Heilsversprechen sind. Mitglieder der Islamischen Verteidigungsfront flogen wenige Stunden nach dem Erdbeben mit Hilfslieferungen ein und sind immer noch hier.
Die erzkonservative Organisation hat ihre Anhänger immer wieder gegen Andersdenkende aufgehetzt und ist auch gewaltsam gegen diese vorgegangen. Doch ihre radikale, intolerante Ideologie sei in Palu nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, sagt Mohamed Dedy Ashari, der Imam der Baitur Rahman Moschee.
Die Moschee wurde durch den Tsunami zerstört, einzig das Minarett steht noch – schief. Der Imam sitzt auf einem grünen Teppich zwischen unverputzten Backsteinmauern – ein Provisorium für die Gläubigen – und sagt: «Die wichtigste Botschaft aus dem Koran ist, dass Gott unterschiedliche Menschen geschaffen hat. Seine Vision ist, dass wir diese Differenzen überwinden und uns vereinen. Das ist hier nach dem Erdbeben geschehen.» So wolle ihm der christliche Besitzer des Einkaufszentrums nebenan helfen, die Moschee wiederaufzubauen.
Die Leute haben gemerkt, wie verletzlich sie sind.
Auch Thomas Tantotosi gehört der christlichen Minderheit in der Stadt an. Er ist Pfarrer an der Imanuel-Kirche in der Stadt Palu, die vom Erdbeben und dem Tsunami besonders schwer getroffen worden war. Er sagt ebenfalls, die Katastrophe habe nicht Zwist, sondern Eintracht gebracht: «Die Leute haben gemerkt, wie verletzlich sie sind. Früher haben sie sich nur um sich selbst gekümmert, heute kümmern sie sich umeinander.»
Ein ganzer Stadtteil versunken
In der kleinen Hütte von Asmudin und Amina wird heute nicht nur mehr gebetet. Bauer Asmudin und seine Tochter denken auch darüber nach, wie sie anderen mehr helfen und ihr Dorf wieder aufbauen können. Die Regierung habe ihnen bislang nicht geholfen, klagt er.
Ähnlich klingt es in einem Fischerort im Bezirk Donggala entlang der Küste. Dort glitzert das Meer wieder türkisblau, und die Wellen schwappen leise an die Küste. Sukardi, ein Bauarbeiter, zeigt auf das Wasser. Dort habe sein Haus gestanden. «Als wir das Erdbeben spürten, rannten wir aus dem Haus. Doch die Erde öffnete sich, und Wasser umspülte alles und zog uns in die Tiefe.»
Ein ganzer Stadtteil verschwand hier im Meer. 41 Bewohner starben, auch Sukardis Frau und drei seiner Enkelkinder. Sukardi konnte sich retten, aber ein Stück Wellblech zerschnitt seinen Unterschenkel. Er hinkt noch immer.
Von der Regierung gibt es nur eines: leere Versprechen.
Schleppender Wiederaufbau
Wer überlebt hat, haust wenige Schritte vom Unglücksort entfernt in einer Baracken-Siedlung, die eine malaysische Hilfsorganisation für die Überlebenden gebaut hat. Die Menschen sitzen herum und schlagen die Zeit tot.
Andi Gopal, der Vorsitzende der kleinen Gemeinschaft, ist wütend. «Wir haben nur von Nichtregierungsorganisationen und privaten Spendern Hilfe bekommen. Von der Regierung aber gibt es nur eines: leere Versprechen.»
Die Regierung hat all jenen, die ihr Haus verloren haben, 3500 Franken pro Haus für den Wiederaufbau versprochen. Doch bislang ist das Geld nicht bei den Überlebenden angekommen.
Bürokratische Wirren
Im Bürgermeisteramt herrscht Verwirrung. Niemand weiss genau, wer für den Wiederaufbau zuständig ist. Dann taucht Ahmed Rijal Arma auf. Er ist mit der Planung des Wiederaufbaus beschäftigt, und auch er ist frustriert. Der Wiederaufbau werde umgerechnet weit über eine Milliarde Franken kosten. Der grösste Teil davon soll von der Zentralregierung aus Jakarta kommen, doch die lasse sich Zeit, sagt Rijal Arma: «Bürokratie, das ist das Problem. Wir haben im Dezember alle nötigen Angaben nach Jakarta geschickt, um mit dem Aufbau zu beginnen, aber geschehen ist nichts.»
Heute, ein halbes Jahr nach der Katastrophe, lebten noch immer Leute in Zelten, das sei viel länger als bei anderen Krisen, beklagt auch Pascal Panosetti. Er arbeitet für die Schweizer Organisation Heks, die vor Ort unter anderem temporäre Unterkünfte baut. «Die Koordination ist schwierig, und das Geld aus dem Ausland ist zwar willkommen, aber wir Ausländer sind es nicht. Ich rechne mit zwei Jahren, bis die Menschen wieder Fuss gefasst haben.»
Politische Auswirkungen
In der Baitur Rahman Moschee in Palu versteht Imam Mohamed Dedy Ashari nicht, wieso die Regierung von Joko Widodo, dem Staatspräsidenten Indonesiens, nicht vorwärts macht. «Vielleicht will sich die Regierung selbst bereichern, Korruption ist weitverbreitet. Aber das ist verrückt jetzt, wo Wahlen anstehen», sagt der Imam. Am 17. April wählen die Indonesierinnen und Indonesier einen neuen Präsidenten, ein neues Parlament und neue Regionalparlamente.
Im Fischerort in Donggala, wo ein ganzes Quartier im Meer versunken war, helfen sich die Menschen nun selbst. Taucher haben ein paar rostige Motorräder, Autoreifen und einen Motor aus dem Wasser geholt.
Sukardi, der kaum noch gehen kann, will ein Motorrad wieder fahrtüchtig machen, um als Motorradtaxifahrer etwas Geld zu verdienen. Er will seine Stimme bei den kommenden Wahlen nicht dem amtierenden Präsidenten Joko Widodo geben, sondern seinem Gegenspieler Prabowo Subianto. Genauso denkt Bauer Asmudin, der beim Erdbeben alles verloren hat.
Der schleppende Wiederaufbau und die nicht eingelösten Versprechen der Regierung könnten den amtierenden Präsidenten Joko Widodo zumindest in Sulawesi viele Stimmen kosten. Doch nebst den politischen Konsequenzen zeigt sich, sechs Monate nach der Katastrophe, noch etwas: Trotz der schnellen Hilfslieferungen radikaler, islamistischer Organisationen war deren intolerantes Gedankengut nicht willkommen. Heute wird auf Sulawesi ein überwiegend toleranter Islam gelebt – ganz Indonesien war dafür schon vor dem Erdbeben bekannt.