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75 Jahre Genfer Konventionen Warum das Recht im Krieg oft toter Buchstabe bleibt

Im Krieg soll es ein Minimum an Menschlichkeit geben. Dafür sind heute vor 75 Jahren die Genfer Konventionen unterzeichnet worden. Fast alle Staaten haben ihnen zugestimmt.

Und doch sind die meisten Schlachtfelder von Unmenschlichkeit und Rechtlosigkeit geprägt. Das hat nicht nur mit der Logik des Krieges zu tun, sondern auch mit der weltpolitischen Lage. Aber der Reihe nach.

Die vier Genfer Konventionen von 1949 gehören zum sogenannten humanitären Völkerrecht, also dem Recht im Krieg. Sie sind die Arbeitsgrundlage des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK.

Schutz für Verwundete, Gefangene und Zivilisten

Unabhängig davon, ob ein Krieg gerechtfertigt ist oder nicht, gibt es Pflichten für Militärs und Milizen. Sie dienen dem Schutz all jener, die sich nicht oder nicht mehr an den Kämpfen beteiligen. Verwundete sind zu verarzten, Gefangene vor Misshandlung zu bewahren, Zivilisten mit Lebensnotwendigem zu versorgen.

Ein Kernprinzip der Genfer Konventionen ist die Verhältnismässigkeit. Bei jedem Angriff müssen der militärische Nutzen und der zivile Schaden gegeneinander abgewogen werden. Opfer gehören zwar zum Krieg, sind aber so gut es geht zu vermeiden.

Doch die Schreckensnachrichten von gefolterten Gefangenen und zerbombten Spitälern in der Ukraine, im Gaza-Streifen und im Sudan lassen vermuten, dass das Recht im Krieg oft toter Buchstabe bleibt.

Der russische Präsident Wladimir Putin behauptet, er kämpfe in der Ukraine gegen «Nazis». Die Charta der Hamas nimmt Bezug auf islamische Texte, wonach alle Juden zu töten seien. Und der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant verkündete: «Wir kämpfen gegen Tiere und handeln entsprechend.»

Justiz ohne politische Unterstützung

Die Taten, die auf diese Worte folgten, untersuchen derzeit der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Es gibt mehrere Klagen und Verfahren, unter anderem wegen Kriegsverbrechen. Doch es fehlt der internationalen Justiz an politischer Unterstützung.

Als IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric Egger vor einem Jahr den chinesischen Staatschef Xi Jinping besuchte, lobte dieser das humanitäre Völkerrecht als «grössten Konsens, der unterschiedliche Zivilisationen vereinen kann». Unerwähnt liess er, dass sein Verbündeter Putin mit einem Haftbefehl aus Den Haag gesucht wird.

Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen wurden auch gegen drei Hamas-Führer beantragt sowie gegen den israelischen Minister Gallant und seinen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Dass sich auch Israels Führung auf Haftbefehle gefasst machen muss, nannte US-Präsident Joe Biden «empörend».

Weltpolitische Reflexe

Kriegsverbrechen begehen scheinbar immer nur die anderen und sicher nicht die eigenen Verbündeten. Diesen Reflex verstärkt die weltpolitische Rivalität zwischen zwei Machtblöcken: China und Russland auf der einen, die USA mit ihren Verbündeten auf der anderen Seite. Kritik innerhalb des eigenen Machtblocks, so die Befürchtung, würde bloss der anderen Seite dienen.

Ein Reflex, der dem Geist der Genfer Konventionen zuwiderläuft – und der sie am 75. Geburtstag kraftlos erscheinen lässt.

Sebastian Ramspeck

Internationaler Korrespondent

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Sebastian Ramspeck ist internationaler Korrespondent für SRF. Zuvor war er Korrespondent in Brüssel und arbeitete als Wirtschaftsreporter für das Nachrichtenmagazin «10vor10». Ramspeck studierte Internationale Beziehungen am Graduate Institute in Genf.

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SRF 4 News, 12.08.2024, 06:00 Uhr

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