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Genfer Konventionen Das humanitäre Kriegsvölkerrecht steht unter Druck

Diese Woche schlug UNO-Generalsekretär António Guterres Alarm. Erstmals in seiner Amtszeit forderte er, gestützt auf Artikel 99 der UNO-Charta, den Sicherheitsrat nachdrücklich auf, endlich tätig zu werden. Die Zahl der Opfer in Israel und in Gaza sei enorm. Guterres nennt es eine humanitäre Katastrophe.

Mirjana Spoljaric Egger, die Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, klagte gegenüber Radio SRF, noch nie sei sie so besorgt gewesen über den Zustand der Welt wie jetzt. Das IKRK stützt seine Arbeit auf die Genfer Konventionen – und sie wiederum definieren das humanitäre Kriegsvölkerrecht.

Mindestmass an Menschlichkeit

Ziel des humanitären Völkerrechts ist es nicht, Kriege zu verhindern. Die Ambition ist bescheidener: Wenn es schon zu Kriegen kommt, soll in diesen wenigstens ein Mindestmass an Menschlichkeit walten. Es ist sozusagen eine Fortentwicklung des mittelalterlichen Gebots der Ritterlichkeit.

Das heisst: In Kriegen muss unterschieden werden zwischen Soldaten und sonstigen Kämpfern einerseits und Zivilisten andererseits. Waffengattungen, die eine solche Unterscheidung nicht erlauben, also Atomwaffen, C-Waffen oder Landminen, sind geächtet. Kriegsgefangene sollen menschenwürdig behandelt werden, Kulturgüter, zivile Infrastruktur und die Umwelt sind zu schützen. Kriege sollen etwas weniger grausam sein. Und: Wer sich darüber hinwegsetzt, kann und soll verurteilt werden – Länder vom obersten UNO-Gerichtshof, Einzeltäter vom Internationalen Strafgerichtshof.

Verstösse gegen Kriegsvölkerrecht

Im aktuellen Krieg in Gaza bedeutet das: Die Hamas-Terrorgrossaktion vom 7. Oktober war offenkundig völkerrechtswidrig. Sie richtete sich sogar gezielt gegen Zivilpersonen, statt sie zu schützen. Die Hamas war wohl gar bestrebt, dass der Terrorakt eine israelische Gegenoffensive auslösen würde. Bei dieser wiederum geht nun Israel viel zu weit und verletzt seinerseits in hohem Mass das Kriegsvölkerrecht. Dieses billigt zwar die Selbstverteidigung, verlangt aber, dass dabei die Proportionalität respektiert wird und zivile Opfer bestmöglich vermieden werden. Die Inkaufnahme von Tausenden ziviler Opfer in Gaza ist rechtswidrig. Genauso wie die tage-, ja wochenlange Abriegelung des Gazastreifens als Kollektivbestrafung gilt.

Das Kriegsvölkerrecht erlaubt zwar, unter gewissen Umständen zivile Ziele, selbst Spitäler, Schulen oder Wohnhäuser anzugreifen. Allerdings nur dann, wenn von dort aus Raketen abgefeuert werden oder sich darin oder darunter Waffenlager oder Kommandozentralen befinden. Für solche Praktiken ist die Hamas berüchtigt. Weil es aber den israelischen Streitkräften vielfach nur unzureichend gelingt, zu beweisen, dass sich militärische Stützpunkte, Arsenale in und unter allen beschossenen zivilen Gebäuden befunden haben, macht sich Israel völkerrechtlich äusserst angreifbar.

Angesichts der sehr hohen Zahl ziviler Opfer lässt sich kaum noch von «Kollateralschäden» sprechen. Und je weniger gut es Israel gelingt, die Hamas militärisch zu enthaupten, umso weniger berechtigt sind seine Militärschläge. Nutzen und Kosten klaffen dann zu weit auseinander.

Druck steigt

Das IKRK beklagt seit Jahren die Aushöhlung und wachsende Missachtung des Kriegsvölkerrechts. Die Behauptung, es sei das Papier nicht mehr wert, auf dem es geschrieben steht, ist trotzdem falsch.

Zwar lässt es sich nicht beweisen, aber es ist zumindest plausibel, dass Zivilisten in Kriegen noch viel ungehemmter angegriffen würden, wenn es zu ihrem Schutz überhaupt keine verbindlichen Vereinbarungen gäbe. Tatsache aber ist: Zuwiderhandlungen werden häufiger und brutaler.

Genauso wie die Menschenrechte steht auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht unter Druck. So sehr wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Tagesschau am Mittag, 8.12.2023, 12:45 Uhr

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