Er kann ihn sehen. Jeden Tag. Seinen Vater respektive dessen Militärmantel. Niklas Frank hat ihn der Vogelscheuche im Garten angezogen. «Wenn ich im Wohnzimmer sitze und ihn sehe, dann sage ich mir: ‹Das hast du verdient. Das hast du wirklich verdient, als Vogelscheuche›.»
Niklas Frank ist ein sogenanntes «Täterkind». Jemand, der damit klarkommen musste, der Sohn von Hans Frank zu sein, der ab 1939 Generalgouverneur von Hitlers Gnaden im besetzten Polen war und mit dem Spitznamen «Schlächter von Polen» in die Geschichte einging.
Penibler Dienst-Tagebuchschreiber
Vater Frank war Starjurist der NSDAP, verteidigte Adolf Hitler vor dessen Machtergreifung in zahllosen Prozessen. Um die Fassade der Legalität aufrechtzuerhalten, hatte der spätere Führer alle rechtlichen Mittel der Demokratie ausgereizt. Nach 1933 wurde Hans Frank Justizminister von Bayern und war als Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz verantwortlich. Dafür, dass die nationalsozialistische Willkür in rechtliche Paragrafen gegossen wurde.
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Bild 1 von 3. Hans Frank (links) mit Adolf Hitler auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig (3. Oktober 1933). Bildquelle: Getty Images/ullstein bild Dtl.
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Bild 2 von 3. Hans Frank (Mitte) mit NS-Politiker Joseph Goebbels (links) bei einer NSDAP-Kundgebung im Grossen Sitzungssaal des Rathauses in Nürnberg (6. September 1937). Bildquelle: Getty Images/ullstein bild Dtl.
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Bild 3 von 3. Als Reichsminister hält Hans Frank in München eine Rede (24. Oktober 1936). Bildquelle: Getty Images/Keystone-France.
Auf das Konto von Hans Frank als Statthalter Hitlers in Polen geht das Aushungern der Zivilbevölkerung, die Verschleppung Hunderttausender zur Zwangsarbeit nach Deutschland und die Ermordung von mindestens drei Millionen Juden. Die Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor, Majdanek, die Ghettos von Warschau, von Krakau. In der nationalsozialistischen «Endlösung» erwies sich Frank in Polen als grauenhaft effizient.
«Hier haben wir mit dreieinhalb Millionen Juden begonnen, von denen sind nur noch wenige Arbeitskompanien vorhanden, alles ist – sagen wir mal – ausgewandert», witzelte der Generalgouverneur bei einem Empfang am 2. August 1943 in seinem Amtssitz in der Wawel-Burg, dem Schloss der polnischen Könige. Ob der akribische Tagebuchschreiber Frank da auch in Klammern «Heiterkeit» notiert hat, um das Wohlwollen der 30 Reichsredner im Kronsaal der Burg darzustellen?
Keine andere Nazi-Grösse hat seine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit derart penibel dokumentiert wie Hans Frank in Polen. 38 Dienst-Tagebücher mit mehr als 11'000 Seiten hat er den Anklägern in den Nürnberger Prozessen übergeben. Der internationale Militärgerichtshof verurteilt ihn zum Tod, der «Schlächter von Polen» endet am 16. Oktober 1946 am Galgen.
Das letzte Foto vom «Dreckskerl»
«Wenn man genau hinschaut, sieht man das geschwollene Auge. Er ist wohl gegen den Klappenrand der Falltür geknallt», erläutert Niklas Frank trocken. Der heute 86-Jährige trägt das Foto seines toten Vaters stets in der Jackentasche. Um sich immer wieder zu versichern, dass der «Dreckskerl», wie er ihn oft nennt, wirklich tot ist.
Sieben Jahre alt war Niklas, als sein Vater hingerichtet wurde, er war das jüngste der fünf Frank-Kinder. Er mag sich gut erinnern an die Burg in Krakau, ans prunkvolle Schloss Kressendorf, an die Schar Bediensteter, die er herumscheuchte. Den Sohn des Top-Nazis wagte keiner zurechtzuweisen.
Die Unbeschwertheit fand mit der Verhaftung des Vaters durch amerikanische Soldaten ein jähes Ende. Und dann waren da die schrecklichen Fotos in den Zeitungen, von Leichenbergen, von toten Zeugen des systematischen Massenmords. «Das hat mich wirklich sehr geschockt. Darunter stand ‹über Polen›. Und ich dachte, ja, Polen gehört uns. Den Franks.»
Das grosse Schweigen
Nach dem Krieg sei es der Familie Frank ziemlich dreckig gegangen, sagt Niklas Frank, «wir mussten manchmal gar betteln gehen». Die Familie wurde buchstäblich vom Hof gejagt, vom umgebauten Bauernhof am Schliersee in Oberbayern, von den königlichen Residenzen. Weg waren die feudalen Wohnsitze, weg die geplünderten Kunstschätze, weg der Rembrandt und da Vincis «Dame mit dem Hermelin», einem weissen Wiesel, in dem Klein-Niklas stets nur eine Ratte sah.
Diskutiert wurde zu Hause bei den Franks nicht. Weder über die Taten des im Prozess keine Reue zeigenden Vaters noch über die Schuld. Schuld war Hitler. Schuld waren die anderen. Es wurde geschwiegen, genauso wie in den meisten deutschen Familien. Man wollte in der Nachkriegszeit einen Schlussstrich ziehen, sich nicht mehr mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen.
Wann immer jemand herausgefunden habe, dass er der Sohn des Generalgouverneurs Frank sei, hätten ihn alle bedauert, lacht Niklas Frank. «Das schwere Schicksal! Der arme, unschuldige Mensch, hingerichtet von den blöden Siegern, oder weiss der Teufel.»
Späte Auseinandersetzung
Niklas Frank sagt heute, er habe sich wohl unbewusst dazu entschieden, sich seine Zukunft nicht vom Nazi-Vater verpfuschen zu lassen. Er lebte sein eigenes Leben, wurde Journalist, Reporter, heiratete, wurde Vater einer Tochter. Mit fortschreitendem Alter habe ihn dieses Schweigen über die persönlichen Verstrickungen in den Holocaust aber mehr und mehr geärgert.
Also machte er sich daran, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten. Schonungslos. Für sein 1987 publiziertes Buch «Der Vater. Eine Abrechnung.» wurde Niklas Frank heftig kritisiert. Zu brutal, die Geschichte des Sohnes über seinen Vater, den Nazi-Massenmörder. Zu abgrundtief die Verachtung für seinen Erzeuger.
Man musste feige sein in dieser Diktatur, weil man sonst selbst ins KZ kam oder gehängt wurde.
Es blieb nicht bei dem einen Buch. Auch die Rolle seiner Mutter leuchtet er erbarmungslos aus. Die sich als selbst ernannte «Königin von Polen» gern im offenen Mercedes-Benz ins Krakauer Ghetto chauffieren liess, um Schmuck und Pelze «günstig» zu erwerben.
Niklas Frank schrieb auch über seine Geschwister, die das Bild des Vaters nie mit dem Bild des gehenkten Kriegsverbrechers zusammenbrachten, daran auf die eine oder andere Art zerbrachen. Und er liest und diskutiert seit 30 Jahren an Gymnasien, Volkshochschulen, besucht Parteien und Verbände. Denn Niklas Frank sieht in diesem Schweigen die Ursache dafür, warum Antisemitismus und Rechtsextremismus heute wieder aufflammen.
Parallelen zur Gegenwart
Der 86-Jährige glaubt immer öfter, den toten Vater auf seinem letzten Foto lächeln zu sehen, «weil seine miese, mörderische Ideologie hier in Deutschland» wieder aufgelebt sei. Man habe den Opfern des Holocaust zwar Denkmäler gebaut, doch das angerichtete Grauen emotional zu erfassen, an sich heranzulassen, das hätten die Deutschen kaum getan.
Hätten die Väter und Mütter mit ihren Kindern über all die kleinen Dinge gesprochen, die die nationalsozialistische Diktatur am Laufen gehalten haben. Hätten sie ihnen erzählt, warum sie wegsahen, als die netten jüdischen Nachbarn von der Gestapo aus der Wohnung nebenan getrieben wurden, warum sie sich wegdrehten, als die Kolonnen an Zwangsarbeitern durchs Dorf geführt wurden.
Der Sinn der Deutschen steht ganz deutlich nach einer Diktatur.
«Diejenigen, die ihren Söhnen und Töchtern gesagt hätten, dass sie furchtbar feige waren, die würde ich sogar verteidigen», betont Niklas Frank. «Denn man musste feige sein in dieser Diktatur, weil man sonst selbst ins KZ kam oder gehängt wurde. Aber dies zu erzählen, das wäre es gewesen. Sie hätten eine ganz tolle, mutige Jugend erziehen können, mit ihrer Ehrlichkeit. Das passierte nicht.»
Pessimistischer Zukunftsblick
Der 86-Jährige ist heute nicht mehr so gut zu Fuss, stützt sich schwer auf seinen Gehstock. In seiner Analyse aber ist er hellwach und messerscharf. Es macht ihn als «Täterkind» wütend, dass die Ideologie der Ausgrenzung, die Hetze und der Hass heute wieder salonfähig gemacht werden, befeuert von der Alternative für Deutschland. Für ihn kopierten die Höckes und Gaulands der AfD Hitler. Auch Hitler hätte damals die Demokratie systematisch unterhöhlt, die Institutionen, die Parlamente als Schwatzbuden verunglimpft.
«Demokratie ist nun mal schwierig, man sieht es ja beim Bau der neuen Regierungskoalition», sagt Niklas Frank. Die Deutschen hätten die politischen Streitereien satt, sie möchten, dass es vorangehe. «Aber was kommt jeweils als nächster Satz? Wir brauchen einen, der sagt, wo es langgeht.» Und fügt pessimistisch an: «Der Sinn der Deutschen steht ganz deutlich nach einer Diktatur.»
Krokodilsträne im Garten
Niklas Frank wird nicht aufhören, dagegen zu kämpfen. In Büchern, mit Vorträgen an Schulen, mit Interviews in der Presse. Und vor der eigenen Haustür. Frank lebt seit rund 40 Jahren in einem kleinen Dorf nahe Itzehoe, eine gute Autostunde nördlich von Hamburg. Neben seinem denkmalgeschützten Reetdach-Häuschen hat er das seiner Ansicht nach einzige ehrliche Denkmal für die «von uns ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer» aufgestellt.
Eine von ihm selbst entworfene riesige Krokodilsträne, die aus dem Auge eines schwarz-rot-goldenen Krokodils tritt. Um die Scheinheiligkeit der Deutschen zu illustrieren. Ein sehr persönliches Mahnmal wie die Vogelscheuche, die den inzwischen sehr verwitterten Mantel des Massenmörders Hans Frank trägt.
Niklas Frank wird ihn nicht los, seinen Vater.