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Afghanische Friedensgespräche Experte: «Frauenrechte könnten über Bord geworfen werden»

Zum ersten Mal haben sich Vertreter der Taliban und der afghanischen Regierung an einen Tisch gesetzt. Bei den Verhandlungen in Doha geht es auch um die Frage, welchen Stellenwert Menschen- und Frauenrechte haben sollen. Dies könnten zu kurz kommen, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig.

Thomas Ruttig

Afghanistan-Kenner

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Thomas Ruttig ist Afghanistankenner und -experte. Er berichtet seit Jahrzehnten über das Land. Seit 1993 hat er insgesamt zwölf Jahre dort gelebt und dabei unter anderem für die UNO und die EU gearbeitet. Ruttig ist Mitbegründer des Afghanistan Analysts Network. Er führt auch einen aktuellen Afghanistan-Blog.

SRF News: Mit welcher Agenda gehen die Taliban in diese Gespräche?

Thomas Ruttig: Eine offizielle Agenda für die Gespräche in Doha gibt es noch nicht. Bei der Eröffnung in Doha hat der Vizechef der Taliban, Mullah Baradar, in einer sehr kurzen Rede den einzigen Eckpunkt, den die Taliban meistens in den Vordergrund stellen, auch wieder erwähnt; dass sie erstreben, dass in Afghanistan eine islamische Ordnung herrscht.

In Afghanistan steht man immer schlecht da, wenn man sagt: ‹Nein, wir wollen nichts Islamisches.›

Die Taliban wollen also westliche Einflüsse im Land wieder rückgängig machen?

Das muss sich im Laufe der Gespräche herausstellen. Für die afghanische Regierungsseite ist es relativ schwierig, da hart dagegenzuhalten. Denn Afghanistan ist offiziell eine islamische Republik – und in Afghanistan steht man immer schlecht da, wenn man sagt: ‹Nein, wir wollen nichts Islamisches.›

Also geht es in erster Linie darum: Wer definiert nachher, was eigentlich islamisch ist? Es hat Hinweise der Taliban gegeben, dass sie alles, was nicht islamischen Werten entspricht, nicht akzeptieren wollen – also internationale Werte, Menschenrechte, Frauenrechte usw. Gleichzeitig betonen sie immer wieder, dass die in bestimmter Form auch innerhalb des islamischen Rahmens gegeben sind. Das wird Verhandlungssache sein.

Man dachte, man habe gegen die Taliban, weil sie unbeliebt waren, leichtes Spiel.

Die Taliban kennt man als gewaltbereite Miliz. Nun sitzen sie am Verhandlungstisch. Haben sich die Taliban verändert?

Ich glaube, die internationale Gemeinschaft hat sich verändert. Unter der Führung der USA ist das Taliban-Regime, das in der afghanischen Bevölkerung nicht sehr beliebt war, 2001 gestürzt worden. Man dachte, man habe gegen die Taliban leichtes Spiel, weil sie unbeliebt waren. Aber das hat sich als falsche Annahme herausgestellt.

Man hat sich da einfach der Realität beugen müssen. Das hat auch damit zu tun, dass die Taliban zwar auch vorrangig zu terroristischen Mitteln greifen, um ihre Ziele zu erreichen. Aber sie sehen das als asymmetrischen Krieg gegen eine sehr hochgerüstete Supermacht und finden das legitim. Sie hätten sich auch nicht daran halten können, wenn es nicht bestimmte Sektoren in der afghanischen Bevölkerung gäbe, die sie entweder unterstützen oder dulden.

Eine Delegation der Taliban in Doha
Legende: Nach wie vor geniessen die Taliban in Teilen der afghanischen Bevölkerung Rückhalt. Keystone

Wie gross ist dieser Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung?

Das kann man nicht sagen, weil es keine verlässlichen Umfragen in Afghanistan gibt. Aber wenn wir sehen, dass sich grosse Teile des afghanischen Territoriums unter der Kontrolle der Taliban befinden, und wir ins Kalkül ziehen müssen, dass dieser Einfluss der Taliban sowohl durch militärischen Druck und Drohungen funktioniert, aber eben auch dadurch, dass die örtliche konservative Bevölkerung sich auch mit den Werten der Taliban identifizieren können, haben sie Rückhalt.

Auf Regierungsseite gibt es ehemaliger Warlords oder islamistische Kräfte, die wertmässig den Taliban gar nicht so entfernt stehen.

Wie wichtig sind der Regierung denn westliche Werte wie Demokratie und Menschenrechte?

Wenn man ihre Reden hört, dann steht das natürlich über allem. Aber man muss auch die Praxis in Afghanistan sehen. Auf Regierungsseite gibt es eine ganze Reihe ehemaliger Warlords oder islamistischer Kräfte, die wertmässig den Taliban gar nicht so entfernt stehen.

Daraus entsteht natürlich die Gefahr, dass möglicherweise Kompromisse eingegangen werden – dass Frauen- und Bürgerrechte, zumindest teilweise, über Bord geworfen werden könnten.

Das Gespräch führte Simone Hulliger

Echo der Zeit, 12.9.2020, 18:00 Uhr ; 

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