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Annalena Baerbock im Interview Kann die UNO ihren Auftrag noch erfüllen, Frau Baerbock?

Die UNO steckt in der schwersten Krise ihrer achtzigjährigen Geschichte. Sie muss Milliarden sparen und Zehntausende von Angestellten entlassen. Mächtige Staaten wenden sich grundsätzlich ab von der UNO-Charta. Ein Gespräch mit Annalena Baerbock. Die frühere deutsche Aussenministerin ist seit September Präsidentin der UNO-Generalversammlung und damit die formell höchste UNO-Repräsentantin.

Annalena Baerbock

Präsidentin der UNO-Generalversammlung

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Annalena Baerbock ist seit dem 9. September 2025 Präsidentin der 80. Sitzungsperiode der UNO-Generalversammlung. Zuvor war sie von Dezember 2021 bis Mai 2025 Aussenministerin in Deutschland. Die deutsche Politikerin war zwischen 2013 und 2025 Mitglied im Bundestag für die Partei Bündnis 90/Die Grünen.

SRF News: Sie haben im September die UNO-Generaldebatte geleitet. Da vernahm man auf der einen Seite ein breites Bekenntnis zur Notwendigkeit des Multilateralismus und der UNO, auf der anderen Seite wenig Zuversicht, dass dieser Multilateralismus noch funktioniert. Ist das auch Ihr Eindruck?

Annalena Baerbock: Ohne Frage stehen die Vereinten Nationen unter Druck, finanziell und politisch. Gleichzeitig spürte ich von sehr vielen Staats- und Regierungschefs, dass sie die Vereinten Nationen und ihre Prinzipien, ihre Charta verteidigen wollen.

Selbst die mächtigsten Staaten sind bei Herausforderungen wie der Klimakrise oder der Covidpandemie auf Hilfe angewiesen.

Die allermeisten Staaten wissen, dass der Multilateralismus, die internationale Zusammenarbeit eine Art Lebensversicherung ist. Selbst die mächtigsten Staaten sind bei Herausforderungen wie der Klimakrise oder der Covidpandemie auf Hilfe angewiesen.

Es scheint aber, als stünden gerade die drei grössten Militärmächte USA, Russland und China nicht mehr hinter dem Völkerrecht, hinter einer regelbasierten Weltordnung. Kann die UNO ihren Auftrag so noch erfüllen?

Natürlich ist es herausfordernd, wenn ausgerechnet im Sicherheitsrat ständige Mitglieder bisweilen ihr Veto nicht im Sinne des Weltfriedens nutzen. Das Vetorecht ist nicht bloss ein Recht, es ist eine Verpflichtung. Die Welt ist aber so, wie sie ist. Doch eine Mehrheit der UNO-Mitglieder ist nicht länger bereit, einfach schweigend hinzunehmen, wenn das Vetorecht strapaziert wird. Dann tagt jeweils die Generalversammlung, wie neulich, mit Blick auf Gaza. Dort haben wir jetzt zumindest einen Friedensplan, den der US-Präsident mit drei anderen Staatschefs in Ägypten vorgestellt hat. Dieser Plan basiert auch auf intensiver Vorarbeit in der UNO-Generalversammlung.

Frau am Rednerpult der Vereinten Nationen.
Legende: Die ehemalige deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock ist seit September 2025 Präsidentin der 80. Sitzungsperiode der UNO-Generalversammlung. (22.9.2025) REUTERS / Eduardo Munoz

Handeln nicht gerade beim Thema Frieden – ob es nun um Gaza geht oder um die Ukraine – die USA ohne Kooperation mit der UNO und wollen sie gar nicht an Bord haben?

Der US-Präsident hat hier in New York seine Sicht der Dinge deutlich gemacht. Zugleich aber sagte er bei einem Treffen mit UNO-Generalsekretär António Guterres, dass auch die jetzige US-Regierung die Vereinten Nationen als wichtig erachtet. Offensichtlich ist die UNO für alle Staaten – auch für die Vetomächte – der Ort, wo sie hinkommen, diskutieren und auch viel streiten. Alle wollen dazugehören.

Es werden hier Debatten geführt, von denen viele nicht glaubten, sie erneut führen zu müssen.

Ich will jedoch keineswegs alles schönreden. Die Vereinten Nationen sind maximal unter Druck. Es werden hier Debatten geführt, von denen viele nicht glaubten, sie erneut führen zu müssen. Etwa, ob der Klimawandel wirklich eine Bedrohung ist. Aber es bringt ja nichts, darüber zu lamentieren. Die vergangenen Wochen hier zeigten, dass jeder einzelne Mitgliedstaat sich fragen muss: Was können wir selber zur Stärkung des Multilateralismus beitragen, weil die internationale Kooperation in unserem eigenen Interesse ist?

Eine Diskussion, die in der UNO notgedrungen intensiv geführt wird, ist jene ums Sparen. Dabei heisst es oft, die UNO müsse sich zurückbesinnen aufs Kerngeschäft. Was ist denn das Kerngeschäft? Was ist unverzichtbar, was ist verzichtbar?

Die Charta der Vereinten Nationen ist das Kerngeschäft. Und sie ist sehr klar. Zum Kerngeschäft gehören die Wahrung des Weltfriedens und der Sicherheit. Die Nachhaltigkeit. Denn es gibt keinen dauerhaften Frieden, solange Ungerechtigkeit, Hunger oder die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen weit verbreitet sind. Der dritte Punkt sind die Menschenrechte. Und der vierte Punkt ist Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit, kein Friede.

Die Vereinten Nationen müssen effizienter werden. Sie sind ein riesengrosser Tanker.

Für die meisten Staaten ist klar, dass man nicht eine Säule herausnehmen kann, denn dann brechen auch die anderen ein. Aber ausser Frage steht: Die Vereinten Nationen müssen effizienter werden. Sie sind ein riesengrosser Tanker. Wie in jeder Behörde oder in jedem Unternehmen kann auch die UNO dank der Digitalisierung eine Menge Geld sparen, wenn man etwa künstliche Intelligenz nutzt. Wir haben zu viele Doppelspurigkeiten und überlappende Zuständigkeiten. Deshalb haben wir nun den Reformprozess «UNO 80» gestartet. Er ist die Hauptaufgabe in den nächsten Monaten.

Versammlungshalle der Vereinten Nationen mit Teilnehmern an Tischen.
Legende: Die UNO-Generalversammlung: Auch wenn die Vereinten Nationen für ihre Trägheit kritisiert werden, wollen viele Staaten dabei sein und mitdiskutieren. (Bild: 24.9.2025) Keystone / Yuki Iwamura

Sie sind als erste Präsidentin der UNO-Generalversammlung sehr präsent in sozialen Medien wie Tiktok. Das wird einerseits kritisiert. Erreichen Sie andererseits damit Leute, vor allem junge, die bisher den Zweck der UNO nicht unbedingt sehen?

Die Vereinten Nationen sind kein Selbstzweck. Sie müssen den Menschen dienen. Die meisten bekommen leider kaum mit, was hier in New York passiert. Also müssen wir beispielsweise deutlich machen, dass das UNO-Welternährungsprogramm jährlich 125 Millionen Leben rettet. Dass die UNO jedes Mal, wenn jemand in ein Flugzeug steigt, für die Sicherheit mitsorgt, weil die UNO-Zivilluftfahrtbehörde Standards vorschreibt.

Nichts wäre besser oder sicherer oder friedlicher in der Welt, wenn es die UNO nicht mehr gäbe.

Deswegen will ich zeigen, was wir hier tun. Und viele erreicht man dafür heute am einfachsten über Social Media. Also bin ich als Präsidentin der Generalversammlung dort präsent – wie heute fast jeder Regierungschef oder Minister.

Sie sind am Anfang Ihres Präsidialjahres. Vorhin haben sie das Bild des Supertankers gewählt, den man umsteuern muss. Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingt?

Wenn man nicht daran glaubt, sollte man nicht in die internationale Politik, in die Diplomatie einsteigen. Allerdings ist vieles gerade hier äusserst langwierig. Aber wir dürfen nicht all den Kritikern und Zynikern recht geben, die sagen: Jetzt haben wir den Ukrainekonflikt immer noch nicht gelöst, wir geben besser auf. Nichts wäre besser oder sicherer oder friedlicher in der Welt, wenn es die UNO nicht mehr gäbe. Vielmehr würde dann das Böse in dieser Welt gewinnen.

Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.

Echo der Zeit, 24.10.2025, 18 Uhr ; 

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