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Anschlag auf Weihnachtsmarkt «Die Region um Strassburg ist ein Hort von Radikalisierten»

In der Altstadt von Strassburg hat am Dienstagabend ein Mann um sich geschossen. Er benutzte auch ein Messer, mit dem er Personen getötet und schwer verletzt hat. Der Täter ist polizeilich bekannt, aber bislang nicht im Zusammenhang mit Terrorismus.

SRF hat mit dem französischen Terrorexperten Jean-Charles Brisard über die Gefahr von Terroranschlägen in Frankreich gesprochen.

Jean-Charles Brisard

Terrorexperten, Präsident des Zentrums für Terrorismus-Analyse (CAT)

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Der Spezialist für Terrorismus und Terrorismusfinanzierung war als Experte bei der Verfolgung von Terrorismusfinanzierung und Geldwäscherei in Frankreich, der Schweiz, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten tätig. Jean-Charles Brisard ist Präsident des Zentrums für Terrorismus-Analyse ( CAT ), einem führenden europäischen Think Tank für Terrorismusanalyse.

SRF News: Die Behörden haben den Anschlag noch nicht als terroristischen Akt eingestuft. Was denken Sie darüber?

Jean-Charles Brisard: Die zuständige Pariser Abteilung für Terrorismus hat eine Untersuchung wegen eines terroristischen Aktes eingeleitet. Sie tut dies aus zwei Gründen: Erstens war es eine Schiesserei im öffentlichen Raum. Zweitens hat sich der Anschlag ganz klar gegen Bürger gerichtet. Und drittens war das Profil des Attentäters ausschlaggebend: Der Mann hat sich radikalisiert und ist den Behörden seit längerem als Gefährder bekannt. Er hat aufgrund besonderer ideologischer Motive gehandelt, die charakteristisch sind für einen Terrorakt.

Könnte der Täter auch so reagiert haben, weil ihn die Polizei am Morgen festnehmen wollte?

Man hat den Täter bereits bei einem früheren Attentat überprüft, damals beim Attentat von Trèbes in Südfrankreich. Der Vorfall gestern Morgen könnte ein möglicher Auslöser gewesen sein. Aber keineswegs sehe ich darin ein Motiv, um Waffen in die Hand zu nehmen und Menschen zu töten.

Stimmt der Eindruck, dass man in Frankreich in den vergangenen Monaten die Gefahr des Terrorismus ausgeblendet hat?

Es ist wahr, dass es weniger Attentate gegeben hat als in den vergangenen Jahren. Die Attentate sind in ihrem Ausmass auch geringer als die Anschläge im November 2015 in Paris zum Beispiel. Da war eine grosse Masse von Menschen betroffen. Der Islamische Staat ist nicht mehr im Stande, grosse Attentate in Europa auszuführen. Terroristische Akte werden nun von Individuen ausgeführt, die rudimentäre Mittel einsetzen und bei der Ausführung improvisieren.

Vielfach haben diese Individuen nicht einmal eine Verbindung zu den jeweiligen terroristischen Organisationen. Alles ist extrem virtuell. Aber die Anzahl der Attentate ist nach wie vor gross, seit Anfang Jahr kam es allein in Frankreich zu sieben Attentaten, in ganz Europa wurden rund 30 ausgeführt. Die Bedrohungslage bleibt also sehr gross in Frankreich. Und sie ist völlig unabhängig von der Entwicklung der terroristischen Organisationen in ihren Ursprungsländern. Der Umstand, dass sie dort an Einfluss verlieren, mindert nicht die Bedrohung in Europa. Die Bedrohung kommt nun von innen und breitet sich in unserem Land aus.

Die Ideologie stirbt also nicht aus?

Terroristische Gruppierungen mögen Gebiete verlieren. Aber ich sage oft, deren Ideologie überlebt. Leider hat sie sich bei einigen in diesem Land tief eingegraben. In Frankreich gelten über 20’000 Personen als radikalisiert. Sie sind als terroristische Gefährder registriert. Wir haben hier ein Massenphänomen.

Der riesige Weihnachtsmarkt von Strassburg ist nicht zum ersten Mal Ziel eines Anschlags geworden. Es gab schon einen Anschlag im Jahr 2000. Was ist damals passiert?

Strassburg war in der Tat schon mehrmals ein Anschlagsziel von Terroristen. 2000 hat ein geplanter Anschlag, hinter dem Al-Kaida steckte, vereitelt werden können. Und 2016 plante der Islamische Staat einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt oder andere Ziele. Im Übrigen sind von Strassburg aus eine grosse Anzahl von Dschihadisten in den Irak und nach Syrien gereist. Man geht von rund 50 Personen aus. Einige von ihnen sind zurückgekehrt und sie wurden auch verurteilt.

Weshalb konzentriert sich der islamische Fundamentalismus in Strassburg und dem Département Bas-Rhin?

Es ist ein Hort von Radikalisierten und Dschihadisten. Es gibt auch andere Städte, in denen viele Islamisten leben. In Strassburg gibt es eine dschihadistische Infrastruktur, hier werden Menschen radikalisiert und rekrutiert. Man schätzt, dass 10 Prozent der Radikalisierten aus dem Département Bas-Rhin stammen. Das ist ein bedeutsamer Umstand. Zudem sind rund 50 Menschen in den Irak und nach Syrien gereist. Man konnte nachweisen, dass verschiedene Gruppen in Strassburg und der Region ein Netz von Propaganda, Logistik und Transport geschaffen haben.

Das Gespräch führte Alexandra Gubser.

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