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Atomare Abschreckung Thränert: «Krieg könnte durch westliche Bodentruppen eskalieren»

Der französische Präsident Emmanuel Macron will nicht ausschliessen, dereinst westliche Bodentruppen in der Ukraine einzusetzen. Und Russland lässt in Ermahnungen an den Westen regelmässig seine atomaren Muskeln spielen. Beider Verhalten ist für den ETH-Sicherheitsexperten Oliver Thränert ein Spiel mit dem Feuer.

Oliver Thränert

Sicherheitsexperte ETH Zürich

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Der Spezialist für Sicherheitspolitik leitet den Think Tank am Centre for Security Studies an der ETH Zürich. Von 2001 bis 2012 war Thränert an der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik tätig.

Was ist das Konzept der atomaren Abschreckung?

Es geht darum, das Kalkül des potenziellen Gegners zu beeinflussen. Dem Gegner muss klar sein, dass im Falle eines Angriffs ein Gegenangriff erfolgt, der nicht hinnehmbare Schäden verursacht.

Welche Rolle spielt die atomare Abschreckung beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Meiner Ansicht nach eine grössere, als vielen bewusst ist. Stellen wir uns den Krieg in einer Welt ohne Atomwaffen vor. Das würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass westliche Staaten mehr und vor allem weitreichendere Waffen in die Ukraine liefern. Umgekehrt würde Russland versuchen, die Lieferwege über die Nato-Staaten direkt anzugreifen. Dann hätten wir es wahrscheinlich mit einem grösseren Konflikt zu tun, der mit konventionellen Waffen ausgetragen würde. Derzeit haben weder die Russen noch die westlichen Staaten ein Interesse daran, dass der Konflikt über die Ukraine hinaus eskaliert. Ein Krieg zwischen Russland und der Nato im nuklearen Zeitalter birgt die grosse Gefahr eines Atomkrieges. Das will nicht einmal Putin.

Präsident Macron hat gestern nach der Ukraine-Konferenz mit 20 Staaten gesagt, er schliesse den Einsatz westlicher Bodentruppen nicht aus. Wie bewerten Sie diesen Schritt vor dem Hintergrund der aktuellen Nukleardiskussion?

Ich denke, Macrons Äusserung kann als ein weiterer Versuch seinerseits interpretiert werden, eine Führungsrolle in der Frage der Verteidigung der Ukraine zu übernehmen. Ich stimme ihm zu, dass es schlecht für Europa wäre, wenn die Ukraine den Krieg verlieren würde. Vor allem für Westeuropa. In diesem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um die Zukunft der europäischen Sicherheit. Aber nach meiner Einschätzung würde die Entsendung eigener Bodentruppen eine Eskalation provozieren, die bis zu einer nuklearen Eskalation führen könnte. Das wäre genau das Szenario, das die westlichen Regierungen zu vermeiden versuchen.

Demnach eine äusserst heikle Aussage des französischen Präsidenten?

Ja, und ich frage mich auch, inwieweit Präsident Macron diese Aussage mit den anderen westlichen Regierungschefs abgesprochen hat. Ich bezweifle, dass der deutsche Bundeskanzler Scholz bereit wäre, Bundeswehrsoldaten direkt im Konflikt einzusetzen.

Während des Kalten Krieges schlossen die Sowjetunion und die USA Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle ab. Warum war das damals möglich?

Die Kubakrise sass beiden Grossmächten noch tief in den Knochen. Sie zeigte, wie leicht es zu einem umfassenden Atomkrieg kommen könnte. Zudem war die Sowjetunion damals mit dem Status quo ihrer Macht in Europa einverstanden. Die US-Amerikaner akzeptierten das zähneknirschend. Heute ist es anders. Russland stellt die europäische Sicherheitsarchitektur infrage. Moskau will ehemalige Sowjetstaaten wieder unter russische Kontrolle bringen, was der Westen nicht akzeptiert. Es ist ein Drahtseilakt für den Westen: Einerseits muss er die Ukraine so ausrüsten, dass sie den Krieg nicht verliert, andererseits darf der Krieg in der Ukraine nicht zu einem Atomkrieg in Europa eskalieren.

Das Gespräch führte Simone Hulliger, Mitarbeit Géraldine Jäggi

SRF Rendezvous, 27.02.2024, 12:30 Uhr ; 

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