Zum Inhalt springen

Atomare Aufrüstung Wissenschaftler fordert: Europa soll zur Nuklearmacht werden

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wächst die Angst vor einem nuklearen Militärschlag. Atomare Aufrüstung wird wieder salonfähig. Auch deshalb trafen sich am vergangenen Dienstag in Wien die Staaten des internationalen Atomwaffenverbotsvertrags, um dieser Aufrüstungsdynamik entgegenzuwirken. Anders sieht das der Politikwissenschafter Maximilian Terhalle. Er fordert: Europa muss zur Nuklearmacht werden.

Maximilian Terhalle

Politikwissenschaftler

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Terhalle ist Experte für internationale Sicherheitsfragen und Gastprofessor an der London School of Economics.

SRF News: Sie fordern, dass Europa zur Nuklearmacht wird. Wie aber kann Europa das überhaupt erreichen? Europa ist eine komplexe Struktur aus unterschiedlichen Nationalstaaten.

Maximilian Terhalle: Es geht hier darum, zunächst einmal die EU-Brille abzusetzen und über Europa nachzudenken. Europa definiert sich über zwei Nuklearmächte. Eine in der EU, eine ausserhalb der EU. Diese Staaten müssen eine gemeinsame Bedrohungsperzeption entwickeln.

In Europa liegen taktische Nuklearwaffen verteilt. Aber die können die Abschreckungsleistung nicht bieten.
Autor:

Amerika ist eine alte nukleare Schutzmacht. Sie stehen in einem Zweifrontenkrieg gegenüber China und Russland. Und sie sehen sich in Bezug auf das Nukleare nicht gewappnet. Ich schlage vor, dass diese Bedrohungsperzeption nicht innerhalb der EU formuliert wird, sondern innerhalb der Nato. Damit es innerhalb der Nato einen europäischen Arm, eine europäische Säule gibt. Diese würde sich explizit mit dieser Frage beschäftigen, für den Fall, dass Amerika in Ostasien durch einen Krieg absorbiert wird.

Es gibt bereits ein Atomwaffenarsenal in Europa unter Kontrolle der Nato. Das ist über Europa verteilt. Reicht das nicht, um zu gewährleisten, dass man im Zweifelsfall eine Abschreckungspolitik gegenüber Russland fahren kann, wenn die Vereinigten Staaten anderweitig beschäftigt sind?

Das reicht nicht. Wir müssen hier weiter vordringen und die Unterscheidung in taktische und strategische Nuklearwaffen genauer betrachten. Denn eine strategische Abschreckung beruht nicht auf taktischen Nuklearwaffen, sondern auf strategischen. Die haben bisher nur die Franzosen und Briten in Europa. In Europa liegen taktische Nuklearwaffen verteilt. Aber die können die Abschreckungsleistung nicht bieten.

Unterschied zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen

Box aufklappen Box zuklappen

Der Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle verdeutlicht den Unterschied zwischen taktischen und strategischen Atomwaffen mit einem Beispiel: «Die taktische Nuklearwaffe würde in Deutschland an Flugzeuge gehängt. Nun würde Russland konventionell auf europäisches Territorium vordringen. Und es bestände keine andere Wahl, als diese Waffen einsetzen. Die taktischen Nuklearwaffen könnten aber nur sehr partiell und lokalisiert das Vordringen behindern. Das würde nicht die strategische Funktion der Abschreckung ausüben.»

Nur strategische Nuklearwaffen könnten durch den schieren Besitz und den kommunizierten Willen, sich einem Erstschlag entgegenstellen zu können, abschrecken. «Das müsste die Funktion eines strategischen europäischen Nuklear-Arms in der Nato sein.» Und das würde dann zu einer nötigen Stärke auf dem internationalen Parkett verhelfen, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Ist das nicht ein ungutes Signal an Unrechtsstaaten auf der ganzen Welt? Wenn einzig der Besitz von Atomwaffen zu diesem Renommee auf internationalem Parkett und zu dieser Durchschlagsfähigkeit verhilft?

Wir haben eine Lücke in der strategischen Abschreckung. Die ergibt sich dadurch, dass sich Amerika gegebenenfalls zwei Grossmächten gegenübersieht. Und selber klar ausspricht, dass es nicht gegen zwei Grossmächte einen Krieg abschrecken kann.

In der internationalen Politik wird Schwäche nicht verziehen.
Autor:

Und wenn eines in der internationalen Politik nicht verziehen wird, dann ist es Schwäche. Diese Lücke muss man früh schliessen, um das Erpressungspotenzial ganz schnell zu versiegeln. Alles andere wird sonst gnadenlos ausgenutzt werden.

Was heisst das für den aktuellen Krieg in der Ukraine? Gibt es da einen Friedensschluss ohne nukleare Aufrüstung?

Egal, wie der Krieg ausgeht: Das Nuklearpotenzial Russlands wird beibehalten werden. Damit ändert sich die Problematik hinsichtlich Friedensschlusses nicht. Wir müssen erst einmal sehen, wie der Krieg ausgeht. In meinen Augen kann dieser Krieg durch ein solches Signal der Stärke nicht entschieden werden. Aber es wäre ein klares Signal, wo Europa in so einem Krieg stünde.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 21.06.2022, 18 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel