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Martin Alioth: «Grossbritannien braucht vor allem Strukturreformen»
Aus SRF 4 News aktuell vom 18.09.2018.
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Ausländer in Grossbritannien Viele Briten sehen ihre Kultur bedroht

Eine Studie kommt zum Schluss, dass das Prinzip der multikulturellen Gesellschaft in Grossbritannien nicht funktioniert. Demnach denken 40 Prozent der Briten, dass die britische Kultur in Gefahr sei und die Regierung die Migration und Integration nicht im Griff habe. SRF-Korrespondent Martin Alioth erklärt, warum viele Briten so denken. Und wo die Gründe dafür zu suchen sind.

Martin Alioth

Martin Alioth

Ehemaliger Grossbritannien- und Irland-Korrespondent, SRF

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Der ehemalige Grossbritannien- und Irland-Korrespondent von Radio SRF lebt seit 1984 in Irland. Er hat in Basel und Salzburg Geschichte und Wirtschaft studiert.

SRF News: Erstaunen Sie die Resultate der Studie?

Martin Alioth: Nicht wirklich. Ich verweise dabei auf die Brexit-Abstimmung vom Juni 2016, als 52 Prozent der abstimmenden Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU votierten. Einer der wenigen Punkte, bei denen in der ganzen Diskussion Einigkeit herrscht, ist der Umstand, dass die Einwanderung eine sehr wichtige Rolle bei der Meinungsbildung spielte.

Laut der Studie herrscht wegen der Einwanderungspolitik eine grosse Frustration: Nur 15 Prozent der Befragten stellten den Ministern ein gutes Zeugnis aus. Was hat die Regierung falsch gemacht?

Die Regierung hat während vielen Jahren die Augen verschlossen. Als 2004 die EU nach Osten erweitert wurde – zur Union stiessen Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und die Republik Zypern – war Grossbritannien neben Irland und Schweden das einzige Land, das den neuen EU-Bürgern vom ersten Tag an vollständige Personenfreizügigkeit gewährte.

Die Regierung war völlig überrascht von der Einwanderung und hatte demenstprechend keine Pläne vorbereitet.

Die Schätzungen der britischen Regierung, wie viele Menschen aus Osteuropa von der Freizügigkeit profitieren würden, lag in den Jahren nach 2004 ein Tausendfaches unter den tatsächlichen Zahlen. Die Regierung war davon völlig überrascht und hatte entsprechend auch keine Vorbereitungen getroffen. Die öffentlichen Dienste wie Gesundheitsversorgung und Schulen kamen unter Druck – und das sind sie bis heute. In den vergangenen 14 Jahren wurde kaum in diese staatlichen Dienste investiert, obschon gerade die Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa fleissig Steuern bezahlen.

Geht es also vor allem um wirtschaftliche Ängste und Futterneid?

Zuerst: Die meisten Osteuropäer, die nach Grossbritannien kommen, sind hochqualifiziert. Daneben gibt es durch die Einwanderung – nicht nur jene von Osteuropäern hat stark zugenommen – im unteren Einkommenssegment auch einen gewissen Lohndruck. Doch das betrifft meist Arbeiten, welche die Briten selber gar nicht machen wollen. Ausserdem herrscht derzeit Hochbeschäftigung im Königreich. Die Arbeitslosenquote ist auf einem historischen Tiefststand.

Man stellt lieber zehn Billigarbeiter an, als das Geld in eine Maschine zu investieren und so die Produktivität zu erhöhen.

Allerdings ist die britische Wirtschaft als Ganzes vergleichsweise unproduktiv – vor allem auch wegen der billigen Arbeitskräfte. So stellt man lieber zehn Arbeiter an, die sehr wenig verdienen, als für das Geld eine Maschine zu erwerben, die viel mehr produzieren würde. Grossbritannien braucht anstelle von Einwanderungskontrollen vielmehr Strukturreformen, wie etwa eine bessere Berufsausbildung junger Briten.

Mehrere Millionen Einwanderer seit 2004

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Im Zuge der EU-Öffnung gegen Osten und der sofortigen vollen Personenfreizügigkeit für die neuen EU-Bürger in Grossbritannien nahm die Einwanderung auf der Insel stark zu: 2004 überschritt die Netto-Einwanderung erstmals die Zahl von 200'000 Personen. In den zehn Jahren zwischen den beiden Volkszählungen von 2001 und 2011 nahm die Zahl der in England und Wales lebenden, im Ausland geborenen Bürger um 2,9 Millionen auf 7,6 Millionen Personen zu. Viele der Einwanderer stammten aus Polen, noch mehr jedoch aus den früheren britischen Kolonien Indien und Pakistan.

Laut der Umfrage sehen vier von zehn Briten ihre Kultur gefährdet, obwohl die Briten durch ihre Kolonialgeschichte Hunderte Jahre Erfahrung mit fremden Kulturen und Einwanderung haben. Ist die Sorge ein neues Phänomen?

Nein. Zudem beziehen sich diese kulturellen Ängste weniger auf den polnischen Spengler als vielmehr auf die Nachfahren von älteren Einwanderungsgruppen, vor allem aus Pakistan, die meist im Norden Englands leben. Obwohl sie schon in dritter oder vierter Generation im Land leben, sind sie oftmals nicht integriert und leben in Gettos. Und das, obwohl sie auf dem Papier längst Briten sind oder zumindest sein könnten.

Symbolbild: Ein Laden in einer britischen Kleinstadt, angeschrieben mit «Polish Specialities».
Legende: Viele Briten sehen ihre Kultur durch die Einwanderer in Gefahr. Reuters

Einwanderung und Migrationspolitik sind nationale Themen in Grossbritannien, doch die Sichtweise ist regional sehr unterschiedlich. Wo sind die Ängste und das Misstrauen im Volk gegenüber der Regierung am grössten?

Da muss man zwischen den verschiedenen Einwanderungsgruppen differenzieren. Die Osteuropäer etwa leben vor allem im Osten Englands. Dort dominiert noch immer die Landwirtschaft. Viele Osteuropäer kamen denn auch zunächst als Landarbeiter, inzwischen arbeiten sie aber in der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft. Betroffen sind Kleinstädte wie Peterborough oder Boston, in denen ein Drittel bis die Hälfte der heutigen Bevölkerung in den letzten Jahren aus Osteuropa dazugestossen ist. Das ist ganz klar zu viel.

Die Studie zeigt ein grosses Misstrauen gegenüber der britischen Regierung. Welche Massnahmen gedenkt diese zu ergreifen?

Schon in den nächsten Wochen will sie ein Weissbuch zur künftigen Einwanderungspolitik veröffentlichen. Mit dem Brexit soll die Personenfreizügigkeit mit den anderen EU-Ländern wegfallen. Gerade hat Premierministerin Theresa May nochmals verdeutlicht, dass es für die Bürger der EU-27 keinen privilegierten Zugang zum britischen Arbeitsmarkt geben wird. Alle Ausländer sollen gleich behandelt werden.

Doch das allein ist kein Modell für eine besser integrierte Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die Einwanderung aus den übrigen 27 EU-Ländern seit dem Brexit-Votum 2016 rückläufig ist. Als Folge davon beklagt etwa das britische Gesundheitssystem immense Probleme, genügend Krankenschwestern und -pfleger zu finden.

Das Gespräch führte Marlen Oehler.

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