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Bauboom in Argentinien «Buenos Aires verliert Gedächtnis und Charakter»

Beton statt Charme: Alte Häuser werden abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt, Proteste der Bürger ignoriert.

Mehrere Stunden schon fahren wir durch Buenos Aires und noch immer fallen Architekt Mauro Sbabarti alte Stadthäuser ein, die er zeigen möchte: Kleinode aus den 1920er und 1940er Jahren, dem Tod geweiht. An ihren Fassaden hängen Werbebanner für verglaste Hochhäuser mit Pool, Gym und Tiefgarage.

Werbung für das neu geplante Haus.
Legende: Zukunftsvision: eine Glasfassade statt Verzierungen. SRF

«Ich bin Architekt, ich will auch bauen, aber nicht hier, in den traditionellen Vierteln», sagt Sbabarti. «Mit jedem alten Stadthaus, das geht, verliert Buenos Aires ein Stück Gedächtnis und an Charakter. Verglaste Neubauten gibt es überall auf der Welt.»

Mit jedem alten Stadthaus, das geht, verliert Buenos Aires ein Stück Gedächtnis und an Charakter.
Autor: Mauro Sbabarti Architekt und Aktivist

Sbabarti engagiert sich für die Gruppierung «Basta de demoler», auf Deutsch «Schluss mit den Abrissen», die ein Register für das architektonische Erbe mit Baujahr vor 1941 fordert.

Die Pandemie hat an vielen Orten der Welt Diskussionen darüber ausgelöst, was eine lebenswerte Stadt ausmacht: mehr Grün? Grössere Wohnungen? Lichtdurchflutung? Doch Buenos Aires bewegt sich in die Gegenrichtung. Geschätzt 2200 Baugenehmigungen wurden allein im Jahr 2021 ausgegeben.

«Mehr Grün, weniger Zement»

In vielen Vierteln haben sich Nachbarn zusammengefunden, die sich gegen den Bauboom wehren. Immer wieder protestieren sie, an diesem Tag vor dem Stadtparlament in Buenos Aires.

Sie befürchten: mehr Hitze durch mehr Zement, fehlende Luftzirkulation und weniger Licht. Kurz: Ein Verlust von Identität und Lebensqualität. «Mehr Grün, weniger Zement» steht auf ihren Plakaten. Oder: «Schluss mit den Hochhäusern!», «Schluss mit der Immobilienspekulation!» Doch bisher stossen sie damit bei der Stadtregierung auf taube Ohren.

Protest auf der Strasse gegen Verlust von Identität und Lebensqualität
Legende: Protest auf der Strasse gegen Verlust von Identität und Lebensqualität. SRF

«Schluss mit der Zerstörung der Quartiere, mit den Abrissen. Wir Nachbarn sagen nein zur städtischen Raumplanung, sie muss verändert werden, Hochhäuser müssen gestoppt werden», sagt Marina Tallarico vom Nachbarschaftsverband Vecinos Unidos de Núñez.

Flucht vor der Inflation

Ein Grund für den Bauboom: Bei einer Inflation von rund 50 Prozent will niemand in argentinischen Pesos sparen, eine Wohnung hingegen gilt als sichere Anlage. Sbabarti erklärt, es fehle in Buenos Aires an Wohnraum. Doch die Neubauten lösten das Wohnraumproblem der Stadt nicht: «Noch nie gab es in Buenos Aires so viele leerstehende Wohnungen und gleichzeitig Menschen, die auf der Strasse leben. Es ist eine sinnlose Zerstörung des architektonischen Erbes, ohne Planung. Der Platz wird eng, es wird an Licht fehlen.»

Noch nie gab es in Buenos Aires so viele leerstehende Wohnungen und gleichzeitig Menschen, die auf der Strasse leben.
Autor: Mauro sbabarti Architekt und Aktivist

Es geht Sbabarti und seinen Mitstreitern auch um den Schutz der wenigen Grünflächen. Zum Vergleich: In Buenos Aires gibt es gerade mal 5 Quadratmeter Grün pro Einwohner, in New York zum Beispiel sind es 13 Quadratmeter.

Darüber und über den Bauboom hätte SRF gerne mit den Verantwortlichen der Stadtregierung gesprochen. Doch auf Interviewanfragen gab es keine Antwort. Wie wichtig Grünflächen sind, wird gerade in diesen Tagen besonders klar. Am 11. Januar, im Südsommer, stieg die Temperatur in Buenos Aires auf 41.1 Grad. In 700'000 Haushalten fiel der Strom aus.

Doch manchmal haben die Denkmalschützer auch Erfolg: Ein historisches Kaffeehaus aus dem Jahr 1916, gegenüber des Kongressgebäudes, wird derzeit aufwändig restauriert. Ermöglicht wurde dies durch Unterstützung von ganz oben: durch einen Parlamentsbeschluss der Bundesregierung.

Co-Restaurierungsleiterin Mónica Capano bezeichnet das Projekt deshalb als kleines Wunder in einer Wüste. Sie war selbst in der Denkmalschutzkommission der Stadt Buenos Aires – bis zu ihrem Rauswurf im Jahr 2012: «Die Immobilienentwickler selbst sassen in der Denkmalschutzkommission. Sie sprachen von Karies. Das heisst: Als wäre das Architekturerbe, alte, kleine historische Häuser, eine Karies. Und ich habe gesagt: Warum sprechen wir nicht von den grossen Reisszähnen, die in den Quartieren entstehen und die Landschaft entstellen?»

Kleines, historisches Haus soll neu gebaut werden.
Legende: «Karies» in den Augen der Immobilienentwickler. SRF

Zuletzt im Dezember winkte die Stadtregierung zehn Hochhäuser mit bis zu 20 Stockwerken mithilfe von Ausnahmeregelungen durch. Doch die Nachbarschaftsverbände wollen weiter kämpfen: für das noch vorhandene architektonische Erbe, für eine lebenswerte Stadt, für mehr Grün.

10v10, 13.1.21; 21:50 Uhr

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