Die Nato-Verteidigungsminister beschliessen, die militärischen Fähigkeiten der Allianz so stark wie noch nie auszubauen. Kaum ein anderes Land wäre bei einem russischen Überfall auf die Nato so gefährdet wie der baltische Kleinstaat Litauen. Dovile Sakaliene war als Menschenrechtsaktivistin und Journalistin tätig. Heute ist sie Verteidigungsministerin von Litauen und spricht über die Situation ihres Landes.
SRF News: Eigentlich wären in den meisten aktuellen Konflikten – allen voran jenem in der Ukraine – die völkerrechtlichen Prinzipien klar. Doch werden sie auch durchgesetzt?
Dovile Sakaliene: Ja, wir haben einen soliden völkerrechtlichen Rahmen in der Welt. Und wir haben nationale Rechtssysteme. Aber in der Realität stellen wir fest: Wir sind unfähig, das Recht durchzusetzen – vom Migrationsproblem bis zu Angriffen von Staaten auf Tiefseekabel und Pipelines.
Und was ist die Folge?
Immer mehr Wähler laufen zu rechtspopulistischen Bewegungen über, die klare Entscheidungen versprechen. Doch taugliche Rezepte haben sie nicht. Wir, die wir im Moment regieren, dürfen nicht Angst haben, zu entscheiden. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen. Wenn unsere nationale Sicherheit militärisch bedroht ist, müssen wir härter auftreten.
Seien wir ehrlich: Ohne die USA lässt sich die Nordostflanke der Nato gar nicht verteidigen.
Momentan scheinen ausgerechnet die drei grössten militärischen Mächte nicht mehr an einer regelbasierten Weltordnung interessiert?
Wir sollten die drei Länder nicht in denselben Topf werfen. Russland und China sind konstant bestrebt, ihre Nachbarn zu unterjochen. Wir wiederum erhoffen uns eine Weltordnung, dank der wir sichere Grenzen haben. Die USA sind noch immer die wichtigste Stütze der Nato. Seien wir ehrlich: Ohne sie lässt sich die Nordostflanke der Nato gar nicht verteidigen. Wir wollen Stabilität und Berechenbarkeit. Nun legt sich die Nato unter US-Druck mehr Muskeln zu.
Glauben Sie, dass sich die US-Regierung tatsächlich um das Schicksal der Ukraine sorgt?
Ich weiss nicht, was in den Köpfen der Menschen in Amerika vorgeht. Jedenfalls unterstützen die USA die Ukraine noch, zum Beispiel mit nachrichtendienstlichen Informationen. Und sie drängen die europäischen Nato-Partner, stärker zu werden. Das ist auch für die Ukraine relevant. Es gibt weiterhin Leute in der US-Regierung, vor allem auch im Senat, die Freunde der Ukraine sind.
Wir sollten am bevorstehenden Nato-Gipfel in Den Haag mit einigen Überraschungen rechnen.
Litauen hat angekündigt, deutlich mehr als fünf Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. In den meisten Nato-Ländern hält man das für übertrieben. Was sagen Sie dazu?
Diese Diskussion läuft noch. Wir sollten am bevorstehenden Nato-Gipfel in Den Haag mit einigen Überraschungen rechnen. Ich denke, 3.5 Prozent für Verteidigung im engeren und zusätzlich 1.5 Prozent für Sicherheit im weiteren Sinn ist eine taugliche Formel. Ich stelle fest, dass viele meiner Kollegen in den vergangenen Monaten deutlich höhere Verteidigungsbudgets angekündigt haben.
Welche Botschaft senden wir nach Moskau?
Russland hat in grossem Umfang Soldaten mobilisiert und seine Rüstungsindustrie hochgefahren. Ist damit aus Ihrer Sicht ein russischer Angriff auf Nato-Länder vorgezeichnet?
Ja, Russland weitet seine Streitkräfte massiv aus, vor allem mithilfe Chinas. Moskau bedroht seine Nachbarn andauernd. Es wird bald bereit sein für eine Invasion. Welche Botschaft senden wir nach Moskau? Welche militärischen Fähigkeiten besitzen wir? An uns liegt es also, ob Russland die Nato angreift oder nicht.
Das Interview führte Fredy Gsteiger.