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Beziehung Deutschland – Israel «Die deutsch-israelische Geschichte ist äusserst zynisch»

Deutschland will wegen des Vorgehens der israelischen Armee im Gazastreifen weniger Waffen an Israel liefern. Diese Meldung hat in der deutschen Politik für Aufruhr gesorgt. In den Unionsparteien ist die Rede von einem Bruch mit der bisherigen Israelpolitik und der Begriff der Staatsräson fällt in diesem Zusammenhang immer wieder. Der Historiker Daniel Marwecki ordnet die Beziehung der beiden Staaten ein.

Daniel Marwecki

Historiker

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Daniel Marwecki lehrt Internationale Beziehungen an der University of Hongkong. Er hat 2018 an der SOAS University of London promoviert. 2024 hat er ein Buch mit dem Namen «Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson» geschrieben.

SRF News: Was ist mit dieser viel zitierten Staatsräson genau gemeint?

Daniel Marwecki: Staatsräson ist das, was ein Staat tut, um sich am Leben zu erhalten. Das bedeutet beispielsweise, einen Krieg zu gewinnen oder innere Aufstände niederzuschlagen. Eigentlich hat jeder Staat eine Staatsräson, Deutschland hat sogar zwei. Es macht die Staatsräson Israels zu seiner eigenen, weil es sagt, die Sicherheit Israels sei Deutschlands Staatsräson. Im deutschen Selbstverständnis hilft Deutschland so Israel, den Staat zu erhalten.

Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf Israel wird als existenzieller Angriff wahrgenommen. Deutschland – der zweitgrösste Waffenlieferant Israels – hat seine Lieferungen seitdem nochmals verzehnfacht. Doch jetzt setzt die Realität ein: Das, was nun in Gaza geschieht, geht weit über das hinaus, was Israel brauchen würde, um die Hamas zu besiegen.

Nahaufnahme der deutschen und israelischen Flagge.
Legende: Deutschland macht die Staatsräson Israels zu seiner eigenen, wie der Historiker Daniel Marwecki erklärt. Doch gibt es nun einen Bruch in der bisherigen Deutschland-Israel-Politik? Keystone / ROBERT MICHAEL

Warum macht Deutschland das Bestehen und die Sicherheit Israels zur eigenen Staatsräson?

In den 1950er- und 1960er-Jahren war Westdeutschland Israels wichtigster Unterstützer. Das war, bevor die USA zum wichtigsten Partner Israels wurden, was etwa ab 1967 geschah. Der Begriff der Staatsräson verweist damit auf eine reale Geschichte, die in der deutschen Öffentlichkeit nicht so bekannt ist.

Kauft sich Deutschland mit dieser «unbedingten Unterstützung» Israels bis zu einem gewissen Grad von der historischen Schuld des Holocausts frei?

Ja, zumindest aus meiner Sicht. Deutschland kauft sich frei, rehabilitiert sich. Israel erhält im Gegenzug das, was es braucht, um sich aufzubauen.

Die deutsch-israelische Geschichte ist äusserst seltsam, äusserst zynisch.

Aus israelischer Sicht war Deutschland das letzte Land, mit dem es Beziehungen aufbauen wollte, da Israel unter anderem von Überlebenden gegründet worden ist. Aber: Deutschland war überlebenswichtig für die Existenzsicherung des jüdischen Staates in der Region. Die deutsch-israelische Geschichte ist somit äusserst seltsam, äusserst zynisch.

In Israel macht man sich nicht allzu viel aus den warmen und selbstbeweihräuchernden Worten, die man in Deutschland hört.

Wie prägt diese Tatsache heute das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland?

Ziemlich stark, weil Deutschland eben immer noch der zweitgrösste Waffenlieferant für Israel ist. Zwar sind die USA heute wichtiger, aber politisch, juristisch und moralisch spielt Deutschland eine sehr grosse Rolle für Israel.

Wie wird diese Annäherung, diese Freundschaft in Israel gesehen?

Realistischer als in Deutschland. In Israel macht man sich nicht allzu viel aus den warmen und selbst­beweih­räuchernden Worten, die man in Deutschland hört. In Israel geht es konkret um Dinge wie U-Boote, Panzermotoren oder Munition.

Für Israel ist der materielle Ausdruck dieses Tausches immer noch der wichtigste. Deswegen hat sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auch sehr kritisch gegenüber der Entscheidung des deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz, weniger Waffen zu liefern, geäussert.

Das Gespräch führte Christina Scheidegger.

Echo der Zeit, 13.8.2025, 18 Uhr ; 

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