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Bootsflüchtlinge Tragödie setzt das «blame game» am Ärmelkanal wieder in Gang

Der Konflikt zwischen Frankreich und Grossbritannien über den Umgang mit Migranten im Ärmelkanal spitzt sich zu. Paris hat ein Treffen mit der britischen Innenministerin kurzerhand abgesagt. Grund für den diplomatischen Eklat ist ein Brief von Premierminister Johnson an Präsident Emmanuel Macron. In seinem Schreiben fordert Johnson Frankreich auf, künftig alle Migranten umgehend zurückzunehmen, nur so könnten die gefährlichen Überfahrten gestoppt werden.

Der französische Staatschef und der britische Premierminister äusserten beide ihre tiefe Betroffenheit, nachdem vor zwei Tagen 27 Menschen im Ärmelkanal ertrunken sind. Doch die Betroffenheit hielt gerade mal 24 Stunden. Danach spielten in Paris und London wieder die üblichen politischen Reflexe. Auf beiden Seiten des Kanals instrumentalisierte man das Drama für die innenpolitische Galerie. Emmanuel Macron möchte im kommenden Frühling wiedergewählt werden und Boris Johnson muss zeigen, dass sein Brexit-Slogan «Take back control» keine Worthülse war.

Schuldige für Migrationskrise suchen

Allein in diesem Jahr haben bisher 25‘000 Menschen in Gummibooten und Kanus den Ärmelkanal überquert und sind an der englischen Küste gestrandet. Der britischen Migrations-Ministerin Priti Patel wird von der Opposition deshalb seit Wochen Unfähigkeit vorgeworfen. Sie liefere keine Lösungen, sondern produziere lediglich populistische Schlagzeilen für die konservative Wählerschaft.

Tatsächlich fantasiert Patel seit Monaten, wie man illegale Migrantinnen und Migranten auf ausrangierte Ölplattformen, entlegene Inseln oder in Asylzentren in Afrika umleiten könnte. Weil dies politische und rechtliche Luftschlösser sind, bleibt der britischen Regierung in der Real-Welt nichts anderes übrig, als für die Migrationskrise Schuldige zu suchen. Die einfachste Variante ist, mit dem Finger auf die andere Seite des Kanals zu zeigen.

Boris Johnson spürt innenpolitischen Druck

Johnson schlägt vor, britische Grenzbeamte in Frankreich patrouillieren zu lassen und fordert das Nachbarland auf, alle Migranten künftig wieder zurücknehmen. Beide Vorschläge sind mehr Provokationen als Lösungen. Twitter ist zudem nicht der übliche Kanal, um mit einem anderen Staat Verhandlungen zu führen. Das publikumswirksame Vorgehen zeigt viel mehr, wie stark Boris Johnson mittlerweile innenpolitisch unter Druck ist.

Was die Boots-Migranten an der südenglischen Küste betrifft, erweist sich der Brexit nämlich als Eigentor. Mit dem Austritt aus der EU ist Grossbritannien nicht mehr Teil des Dubliner-Abkommens, das die Rücknahme von Flüchtlingen innerhalb der EU-Länder regelt. Im letzten Jahr konnten noch rund 300 illegale Einwanderer von Grossbritannien in die EU zurückgeschafft werden. In diesem Jahr waren es noch genau fünf Personen. Boris Johnson hat seine Wahl mit dem Versprechen gewonnen, die Kontrolle über Geld, Gesetz und Grenzen zurückzugewinnen. Was seine Wählerinnen und Wähler auf dem Ärmelkanal beobachten können ist Kontrollverlust und Versagen.

Wer jedoch glaubte, der Tod von 27 Menschen, darunter ein kleines Mädchen und eine schwangere Frau, könnten die Tonalität zwischen Frankreich und Grossbritannien allenfalls verbessern, sieht sich heute getäuscht. Im Gegenteil, die Tragödie auf hoher See hat das «blame game» erst wieder in Gang gesetzt. Und damit auch das lukrative Geschäft der Schlepper mit der Verzweiflung der Flüchtlinge.

Patrik Wülser

Grossbritannien-Korrespondent

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Patrik Wülser arbeitet seit Ende 2019 in London als Grossbritannien-Korrespondent für SRF. Wülser war von 2011 bis 2017 Afrika-Korrespondent und lebte mit seiner Familie in Nairobi. Danach war er Leiter der Auslandsredaktion von Radio SRF in Bern.

 

Tagesschau, 25.11.2021, 19:30 Uhr

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