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Botschafter in Kiew Was braucht die Ukraine diesen Winter, Herr Wild?

Vergangene Woche besuchte Ignazio Cassis in Kiew Wiederaufbauprojekte, an denen die Schweiz beteiligt ist. Man werde sich dabei nach den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung richten, sagte der Bundespräsident. Für die Umsetzung verantwortlich ist Botschafter Claude Wild.

Claude Wild

Botschafter der Schweiz in der Ukraine

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Claude Wild ist seit 2019 der Botschafter der Schweiz in der Ukraine. Davor war er vier Jahre Schweizer Botschafter bei der OSZE.

SRF News: Wie hilft die Schweiz der Ukraine derzeit?

Claude Wild: Einerseits setzen wir auf Finanzhilfen, die direkt an die grossen Organisationen wie die UNO oder das IKRK fliessen. Andererseits haben wir auch unsere eigenen Projekte. Zurzeit sind wir vor allem in den jüngst befreiten Gebieten, nördlich und östlich von Kiew, etwa in Chernihiw, Sumy, Charkiw, aktiv. Diese Gebiete brauchen Nothilfe, denn es wurde kritische Infrastruktur zerstört. Viele Häuser haben zum Beispiel keine Fenster mehr.

Auch an der Wasserversorgung mangelt es vielerorts. Als Schweiz bringen wir da viel Know-how mit. So können beispielsweise unsere Ingenieure mit ihrem Wissen Pumpen und Elektromaschinen wieder instand setzen. Häufig ist dabei Kreativität gefragt – denn viele der beschädigten Maschinen stammen noch aus Sowjetzeiten.

Gibt es bei den Bedürfnissen regionale Unterschiede?

In der Region Kiew hat der Wiederaufbau bereits begonnen. Die Zentralukraine ist zwar weit von der Front entfernt, wird aber auch bombardiert. Zudem ist sie, genauso wie die Westukraine, stark von der Binnenmigration betroffen. Da sind Gemeinden, in denen zuvor 30'000 Menschen lebten, plötzlich mit mehr als 70'000 Personen konfrontiert. Und in den neu befreiten Gebieten im Osten fehlt es fast an allem.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Behörden?

Die Zentralregierung gibt uns ihre Prioritäten an. Zuletzt fragte man uns, ob wir in den Bereichen Entminung und dem Bau von Schutzunterkünften helfen können. Viele Schulen im Land benötigen für den Betrieb einen Bunker. Sehr wichtig ist zudem die Schieneninfrastruktur. Die Eisenbahn ist für die Ukraine zurzeit von zentraler Bedeutung.

Die Arbeit der Schweiz vor Ort wird sehr geschätzt.

Mehrheitlich arbeiten wir mit den örtlichen Behörden zusammen. In der Ukraine hat über die vergangenen Jahre eine starke Dezentralisierung stattgefunden. Der direkte Kontakt wird sehr geschätzt. Wenn zwei Wasseringenieure miteinander sprechen, finden sie meist die besseren Lösungen, als wenn das von oben herab kommt.

Die Ukraine meldet ihre Anliegen immer wieder mit Bestimmtheit an. Spüren Sie Druck, mehr zu tun?

Druck würde ich nicht sagen. Es geht eher um partnerschaftliche Einladungen. Man schätzt die Zusammenarbeit mit der Schweiz sehr. Ich habe Verständnis dafür, dass die Ukraine so laut wie möglich sein muss, um sich bemerkbar zu machen. Klar ist aber auch: Es ist für jedes Land eine Herausforderung, dauerhaft Hilfe in grossem Umfang zu leisten.

Wie steht es um die Energieversorgung in der Ukraine?

Der Strom fällt immer wieder aus – auch hier in Kiew. Im Schnitt müssen die Menschen bis zu acht Stunden pro Tag ohne Strom auskommen. 30 bis 40 Prozent der Strom-Infrastruktur im Land wurde bereits zerstört.

Wie kann die Schweiz da helfen?

Wir haben bereits im März erste Generatoren geliefert und wollen dies auch weiterhin tun. Dafür arbeiten wir mit Schweizer KMU zusammen, die solche mobilen Geräte produzieren. Wir sorgen auch dafür, dass die Gebrauchsanweisungen für einige dieser Geräte ins Ukrainische übersetzt werden.

Wird die Schweiz künftig Munition in die Ukraine liefern? Kiew argumentiert, dass damit unter anderem Getreidetransporte geschützt werden könnten.

Die Verteidigung der Ukraine ist wichtig. Mit der Bombardierung ziviler Infrastruktur durch Russland ist der Krieg auch in eine neue Phase getreten. Doch die Schweizer Neutralität ist klar: Wir helfen, wo wir können, aber wir liefern keine Waffen in ein Kriegsgebiet. Das wissen auch die Ukrainer.

Was wir nicht liefern können, kompensieren wir mit unseren Stärken.

Es ist ohnehin so: Was wir nicht liefern können, kompensieren wir mit unseren Stärken. Unsere Kooperationsprogramme im Land laufen zum Teil schon seit vielen Jahren. Die Wirtschaft läuft auch während des Kriegs weiter. Hier sind wir etwa mit KMU-Krediten beim Einkauf von Saatgut aktiv.

Sie wechseln im kommenden Jahr nach Strassburg in den Europarat: Was nehmen Sie mit aus Ihrer Zeit in Kiew?

Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich bin noch überhaupt nicht im Abschiedsmodus. Es liegt hier noch viel Arbeit vor uns. Die Koffer packen, werde ich darum erst im letzten Moment.

Das Gespräch führte Patrick McEvily.

Tagesschau, 27.10.22, 19:30 Uhr ; 

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