Zum Inhalt springen

Brexit in der Nacht vollzogen London zwischen Party und Frust

  • Hunderte Befürworter des britischen EU-Austritts feierten in der Nacht in London das Ende der Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
  • Der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, bezeichnete in einer Rede vor jubelenden Anhängern die Loslösung von Brüssel als wiedergewonnene Freiheit des Landes.
  • Kurz zuvor betonte Premier Johnson in einer Video-Ansprache, dass der Brexit ein erstaunlicher Moment der Hoffnung für viele im Land sei.

Union-Jack-Fahnen, Sticker mit der Aufschrift «Happy Brexit Day» und Schmähgesänge auf die EU. In der Nacht feierten Hunderte Brexit-Anhänger vor dem Parlament in London den Austritt ihres Landes aus der EU, der mit einem Count-Down eingeläutet wurde. Um Mitternacht Brüsseler Zeit (23.00 Uhr Ortszeit) schliesslich vollzog das Vereinigte Königreich den Brexit.

Stimme einer 76-jährigen Brexit-Anhängerin

Box aufklappen Box zuklappen
  • Die 76-jährige Brenda Brooks ist froh über den Brexit: «Die EU will ein Superstaat werden», sagt die Seniorin aus Devon im Südwesten Englands. Sie habe bei der letzten Wahl Johnsons Konservative Partei gewählt.
  • Früher sei Europa wunderbar vielfältig gewesen, doch die EU verschwende zu viel Geld und wolle alles vereinheitlichen. «Wir wollen unsere Unabhängigkeit», betonte die Seniorin.

Zu der Austrittsparty vor dem Parlament, die von der Initiative «Leave means Leave» organisiert wurde, versammelten sich Hunderte Brexit-Anhänger.

Als einer der herausragenden Vertreter der Bewegung hielt der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, eine umjubelte Rede. Er feierte die mit dem EU-Austritt gewonnene Freiheit der Briten. Gleichzeitig forderte er seine Anhänger auf, dem britischen Premier künftig genau auf die Finger zu schauen - ob er alle Versprechungen auch einhalte, die er für die Zeit nach dem EU-Austritt angekündigt hat.

Das «volle Potenzial Grossbritanniens entfesseln»

Premier Boris Johnson selber wandte sich kurz vor Mitternacht in einer Internet-Ansprache an die Nation. Nach seinen Worten biete der Brexit nunmehr die Chance, das «volle Potenzial Grossbritanniens zu entfesseln».

Gleichwohl räumte Johnson ein, dass der Weg dorthin holprig sein könnte. Er sprach auch von einer «neuen Ära der freundschaftlichen Zusammenarbeit» mit der Europäischen Union.

Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels
Autor: Boris Johnson Britischer Premier

Das Verlassen der EU sei für das Königreich kein Ende, sondern ein Anfang. Für viele Menschen sei dies ein erstaunlicher Moment der Hoffnung, ein Moment, von dem sie dachten, er würde niemals kommen, sagte Johnson. «Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels», erklärte er weiter.

Aufgabe seiner Regierung sei es nun, das Land wieder zusammen- und voranzubringen, fügte Johnson hinzu. Die EU habe viele bewundernswerte Eigenschaften, in den vergangenen Jahrzehnten habe sie sich aber in eine Richtung entwickelt, die nicht mehr zu diesem Land passt.

Gespaltenes Land

An der Partymeile am Parliament Square versammelten sich unterdessen viele Brexiteers.

Zwischendurch drohte die Stimmung zu kippen: Ein Protestzug von Brexit-Gegnern wurde von Austrittsbefürwortern mit wüsten Schmähungen empfangen. «Verräter» und «Verlierer» gehörten noch zu den harmloseren Begriffen, die ihnen entgegengeschleudert werden.

Brexit-Gegnerin aus Italien

Box aufklappen Box zuklappen
  • «Der Brexit ist ein Desaster», schimpft die gebürtige Italienerin Silvia Zamperini. Sie ist frustriert und wütend.
  • «Früher war Grossbritannien so ein offenes Land. Jetzt sind hier viele rassistisch, homophob und intolerant», sagt die 51-Jährige, die schon seit 26 Jahren in England lebt.
  • «Niemand zerrt mich aus der EU», steht auf einem Pappschild, das sie sich um den Hals gehängt hat.

Die Versammlung auf dem Platz vor dem Parlament spiegelt die Stimmung im Land.

Der Drang nach Unabhängigkeit in Schottland ist ungebrochen und auch im stark von EU-Mitteln abhängigen Wales regt sich zunehmend Widerstand. Schottland und Nordirland hatten ohnehin gegen den Brexit gestimmt.

Schlaglicht zur Stimmung im Land

Box aufklappen Box zuklappen
  • Grossbritannien ist noch immer zutiefst gespalten in der Brexit-Frage.
  • Beim Referendum im Sommer 2016 hatten sich die Briten mit knapper Mehrheit (52 Prozent) für die Trennung von der Europäischen Union ausgesprochen.
  • In den Landesteilen Schottland und Nordirland wollte eine Mehrheit lieber in der EU bleiben.
  • Und heute? Inzwischen würde es den Brexit bei einem neuen Votum wohl nicht mehr geben, meint der Umfrage-Guru John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow. 53 Prozent würden dagegen stimmen.
  • Grund dafür sei aber nicht, dass Brexit-Befürworter ihre Meinung geändert hätten, sondern dass Nichtwähler von damals heute eher gegen als für den Brexit stimmen würden.

Farage: «Wir sind frei»

Bei der Austrittsparty nahe des Parlaments in London zeigte sich Brexit-Parteichef Farage jedenfalls bestens gelaunt. Er habe sein Ziel erreicht. Wichtig sei ihm dabei die zurückgewonnene Unabhängigkeit von Vorgaben und Regelungen aus Brüssel: «Wir sind wieder frei.»

Für die 29 ehemaligen Abgeordneten der Brexit-Partei im EU-Parlament jedenfalls sei die Arbeit erledigt und die «Ernte eingefahren», betonte Ann Widdecombe als Vertreterin der Partei.

Meistgelesene Artikel