Worum geht es? Da Premierminister Boris Johnson aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion austreten wollte, musste eine neue Zollgrenze zwischen Vereinigtem Königreich und EU entstehen. Nach langem Ringen einigte man sich darauf, dass diese Grenze auf dem Meer sein sollte, dass es Kontrollen in den nordirischen Häfen geben würde für Waren, die von Grossbritannien nach Nordirland eingeführt werden. Bis Ende März hätte laut Brexit-Vertrag eine Übergangsfrist gegolten, doch jetzt hat Grossbritannien den Vertrag einseitig abgeändert und die Frist bis Oktober verlängert.
Wieso dieser Schritt? «Grossbritannien hat sich vielleicht überschätzt oder auch verkalkuliert», sagt SRF-Korrespondent Patrik Wülser. London habe einer regulatorischen Grenze zwischen der britischen Insel und Nordirland zugestimmt. Insbesondere Lebensmittel müssten ab Ende März kontrolliert werden, bevor sie in Nordirland eingeführt werden. «Logistisch und politisch ist dies offensichtlich nun nicht termingerecht zu schaffen.» Brüssel beharre jedoch auf dem Abkommen, das Johnson vor gut einem Jahr unterschrieb.
Welche Folgen hat das? Grossbritannien macht nun bis im Oktober keine Grenzkontrollen für Lebensmittel und Agrarprodukte, die von der britischen Insel nach Nordirland exportiert werden. Im praktischen Alltag sei dies keine Bedrohung für die Gesundheit der EU-Konsumentinnen und Konsumenten, entwarnt Wülser. Britische Grossverteiler würden jetzt nicht ab April plötzlich chlorierte Hühner, Gammelfleisch oder Gentechreis nach Nordirland bringen. «Aber politisch zerbricht London mit dieser Nacht- und Nebelaktion einmal mehr ziemlich viel Geschirr und erschüttert das Vertrauen in Brüssel.»
War das Ganze absehbar? «Ganz überraschend kommen die Probleme im Zusammenhang mit der Grenze zu Nordirland nicht», so die Einschätzung des Korrespondenten. «Das Grenzregime in Irland ist der Schwachpunkt des Brexits. Während den Verhandlungen sprach man von der Quadratur des Kreises.» Andere nennen es einen Murks oder die Sollbruchstelle des Brexits.
Wie reagiert Nordirland? Durch die Brexit-Verhandlungen sind die Spannungen innerhalb Irlands wieder gestiegen. «Es gab in den vergangenen Wochen vermehrt Hassbotschaften und Drohungen», weiss Wülser. Das Karfreitagsabkommen von 1998 hatte den Bürgerkrieg mit einer politischen Lösung beendet. «Zwischen Irland und Nordirland verläuft jetzt eine weiche Grenze, welche den Handel zulässt, zugleich aber die politische Trennung in zwei Staaten sichert. Das Gezerre zwischen London und Brüssel, das seit mehreren Jahren andauert, könnte die fragile Balance zum Kippen bringen.»
Was kann die EU tun? Brüssel steht in der jetzigen Situation unter Zugzwang. Denn, so sagt Wülser: «Egal, ob man den Binnenmarkt der EU nun gut oder schlecht findet – es gibt zwei Möglichkeiten: Man ist draussen oder drinnen. Man kann nicht auf dem Zaun sitzen.» Grossbritannien habe sich klar für den Austritt und die Rückgewinnung der politischen Souveränität entschieden.
Egal, ob man den Binnenmarkt der EU nun gut oder schlecht findet – es gibt zwei Möglichkeiten: Man ist draussen oder drinnen. Man kann nicht auf dem Zaun sitzen.
Das führte laut Wülser zu absehbaren Zielkonflikten, die sich weder diplomatisch noch technisch lösen liessen. Da sei der fragile Frieden in Irland, der Schutz des EU-Binnenmarktes und die innenpolitische Befindlichkeit in Grossbritannien: «Diese drei Dinge unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach.» London werde Brüssel wohl zu mehr Flexibilität drängen.