Götz Aly ist einer der bekanntesten Autoren zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. In seinem neuen Buch schaut der Historiker in die Vergangenheit und schärft gleichzeitig den Blick auf die Gegenwart.
SRF News: Ihr Buch trägt den Titel: «Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933-1945.» Ist diese Frage heute nicht bereits beantwortet?
Götz Aly: Leider nein! Man spricht oft von «den Nationalsozialisten», die all das verbrochen haben. Ja, Gott, wer waren denn die? Wir haben es im Nationalsozialismus mit einem Teufelspakt zwischen Volk und Führung zu tun. Wir haben ein Volk, das vor 1933 nicht überdurchschnittlich kriminell war und nach 1945 auch nicht. Dazwischen hat es aber die grössten Mordtaten der bisherigen Weltgeschichte begangen. Und hinterher wollte niemand mehr wissen, wie es passiert ist.
Hitler hat es geschafft, in den ersten 100 Tagen die Leute rumzukriegen.
Sie zeigen auf, dass die Hitlerregierung am Anfang in einem horrenden Tempo agierte. Wie zeigte sich das?
Es erinnert ein bisschen an Donald Trump, aber das Tempo war noch viel höher. Die haben es geschafft, in den ersten 100 Tagen die Leute rumzukriegen. Es war Weltwirtschaftskrise, 80 Prozent der Deutschen nagten förmlich am Hungertuch. Es gab viele Selbstmorde, die Leute wurden teilweise aus ihren Wohnungen geworfen, weil sie die Miete nicht bezahlen konnten, Bauernhöfe wurden zwangsversteigert. All das hat Hitler nach 14 Tagen beendet. Dann gab es kleine Sachen: Der Bierpreis wurde zum Beispiel um zehn Prozent gesenkt. Es waren simple Mittel, mit denen er sich sehr schnell die Mehrheit auch gerade in der Arbeiterklasse verschafft hat.
Die Verbrechen Hitlerdeutschlands konnten keinem Deutschen entgehen.
Hitler habe aus Deutschland eine Verbrechensgemeinschaft gemacht, schreiben Sie. Wie gelang ihm das?
Die Verbrechen Hitlerdeutschlands konnten keinem entgehen, schliesslich haben die Soldaten nach Hause geschrieben und berichtet. Hitler und seine Gefolgsleute sagten den Deutschen indirekt: Wenn die anderen gewinnen, werden sie euch antun, was wir ihnen angetan haben. Dann seid ihr tot. Kämpft also besser bis zum Schluss mit uns. So schufen sie eine Verbrechensgemeinschaft.
Ich nenne den Zweiten Weltkrieg auch ‹die blutigste staatliche Konkursverschleppung der Weltgeschichte›.
Hitlerdeutschland war massiv verschuldet. Wie bestimmend war das für das Handeln Hitlers?
Sehr bestimmend. Zuerst wurden die Gewerkschaften enteignet, dann folgte die Enteignung der Juden. Doch das reichte nicht. Schon Monate vor Kriegsbeginn sagte Hitler seinen Generälen, dass sie auf das Eigentum fremder Staaten zugreifen müssten, sonst seien sie gescheitert. Das war ein zentrales Motiv für den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Ich nenne diesen Krieg auch «die blutigste staatliche Konkursverschleppung der Weltgeschichte».
Kann das, was geschah, wieder geschehen?
Es ist nicht ausgeschlossen. Demokratie ist etwas Positives und muss verteidigt werden. Aber sie war eben auch Voraussetzung für Hitler. Dank des Rückgangs der Kindersterblichkeit gab es damals sehr viele junge Leute. Sie waren gut gebildet und wollten sozial aufsteigen. Doch die Weltwirtschaftskrise bremste sie aus.
Das abgrundtief Böse kann aus dem Guten entstehen.
Da kam Hitler und bot einen Ausweg. Der war mit Autoritarismus und Gewalt verbunden, aber er versprach die Möglichkeit, aufzusteigen. Das nenne ich die positiven Voraussetzungen des Nationalsozialismus: Eine gute Bildungspolitik oder Gesundheitspolitik sind nie falsch, sie können aber durch eine unerwartete historische Konstellation zu negativen Ergebnissen führen. Kurz gesagt: Auch das abgrundtief Böse kann aus dem immer Guten entstehen. Ich würde empfehlen, darüber immer mal wieder nachzudenken.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.