Das Gebrüll auf der Strasse hört man auch bei geschlossenem Fenster. An der Kleinen Jägerstrasse 5 in Berlin wohnt die Familie Bendheim. «Arthur Bendheim, Knöpfe en gros», steht im Telefonbuch von 1934. Die damals 13-jährige Margot, ihre Eltern und ihr Bruder Ralph sind jeden Tag grösseren Anfeindungen ausgesetzt, auf den Strassen toben die Nationalsozialisten. Diktator Hitler hat die Stadt, das ganze Land, fest im Griff. Der Terror gegen Jüdinnen und Juden ist Alltag. Der Hass laut.
Über 80 Jahre später sitzt Margot Friedländer, wie sie jetzt zum Nachnamen heisst, beim Interview mit dem «Spiegel» und sagt: «So hat es damals auch angefangen. Der Hass ist wieder laut geworden.» Die Hundertjährige beschreibt die aktuelle politische Lage in Deutschland. Sie sagt es mit leiser Stimme, mit grossen Augen und wiederholt ihre Botschaft «Seid Menschen».
Zurück in der Stadt, in der sie Terror erlebte
Friedländer überlebte Verfolgung und Konzentrationslager, emigrierte nach der Befreiung in die USA, nach New York. Noch in Deutschland heiratete sie Adolf Friedländer, den sie von früher kannte und im KZ wiedersah. Beide, Margot und Adolf, hatten im Holocaust ihre Familie verloren.
Im hohen Alter besuchte die Damenschneiderin Friedländer einen Kurs: «Autobiografisches Schreiben». Und sie schrieb ihre Geschichte auf, landete einen Bestseller. Als Witwe kam sie 2010 nach Berlin zurück, nach über 60 Jahren, in die Stadt, in der sie verfolgt und terrorisiert wurde.
Besuch empfing Friedländer in ihrer Seniorenresidenz beim Kurfürstendamm. Eine kleine Frau mit sanfter Stimme. Es gibt Menschen, die nehmen einen Raum ganz ein mit ihrer Ausstrahlung, mit dem Glanz in ihren Augen. Menschen wie Margot Friedländer.
Sie erzählte ihre Geschichte, nüchtern fast, aber umso eindringlicher. Sie tat das gegenüber Journalisten, aber vor allem vor Schülerinnen und Schülern, um die Erinnerung an den Nazi-Terror und die Judenverfolgung wachzuhalten.
Der Hass wird wieder lauter
«Wir können nicht dankbar genug sein», sagt die deutsche alt Kanzlerin Angela Merkel, «dass Margot Friedländer die Kraft fand, von ihrer Leidens- und Lebensgeschichte zu erzählen. Damit legte sie Zeugnis ab.» Neu-Kanzler Friedrich Merz betont: «Sie hat uns ihre Geschichte anvertraut. Es ist unsere Aufgabe und unsere Pflicht, sie weiterzutragen.»
Trotz aller Erinnerung, die Friedländer unermüdlich weitergab: Gehört wurde sie nicht mehr überall. In deutschen Schulen werden wieder Hitlergrüsse gezeigt, der Hass ist vielerorts lauter als die Stimme Friedländers, viel lauter.
Margot Friedländers Vermächtnis ist uns Mahnung und Verpflichtung. Es bleibt unsere Verantwortung, die jüdische Gemeinschaft in unserem Land nie wieder im Stich zu lassen.
Auf Social Media werden Jugendliche von Rechtsextremen umgarnt, es wird versucht, die Geschichte vergessen zu machen, die Erinnerungskultur zurückzudrängen. Von «Schuldkult» ist rechts aussen die Rede, man müsse die schönen Seiten der deutschen Geschichte wieder mehr vermitteln. In Chats geben sich Jugendliche den Übernamen «Göring», viele Lehrpersonen wollen aufgeben.
Auch darum sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: «Margot Friedländers Vermächtnis ist uns Mahnung und Verpflichtung, gerade in einer Zeit, in der die Demokratie angefochten wird und sich Antisemitismus wieder unverhohlen zeigt, bleibt es unsere Verantwortung, die jüdische Gemeinschaft in unserem Land nie wieder im Stich zu lassen.»
Diese Worte braucht es offenbar. 2025, wo das Gebrüll wieder zu hören ist. Wo der Hass wieder laut geworden ist.