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Bürgerbefragung in Montenegro Eine einfache Volksbefragung wird zur Zerreissprobe in Montenegro

Ab Anfang November sollte im Balkanstaat Montenegro eigentlich eine Volkszählung durchgeführt werden. Sie soll den Behörden Informationen über die Bevölkerungs­zusammen­setzung geben. Allerdings sollen auch Fragen zur Identität gestellt werden: Welcher Nationalität man sich zugehörig fühlt, welche Religion man ausübt. Heikle Fragen in einem Land, das aus verschiedenen Volksgruppen besteht. Die Opposition hatte ihre Anhängerschaft daher zum Boykott aufgerufen. Nun hat der künftige Premierminister eine Verschiebung um einen Monat in Aussicht gestellt. Doch der Streit dürfte damit nicht gelöst sein. Die Antworten zu den wichtigsten Fragen.

Janis Fahrländer

Auslandredaktor Radio SRF

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Janis Fahrländer ist Redaktor in der Auslandredaktion von Radio SRF. Dort ist er zuständig für die Berichterstattung über die Balkanstaaten.

Wieso ist der Zensus so umstritten?

Die Opposition wirft den pro-serbischen Kräften innerhalb der aktuellen Regierung vor, sie wolle die Volkszählung verfälschen und so die statistischen Mehrheitsverhältnisse verändern. Tatsächlich verweigerte diese der montenegrinisch geprägten Opposition bisher, den Zählvorgang zu kontrollieren. Dazu kommt, dass diese Kräfte auch offen erklären, dass sie den serbischen Anteil an der Gesamtbevölkerung erhöhen wollen. Die pro-serbischen Parteien werden zwar in der kommenden Regierung, die in den nächsten Tagen die Amtsgeschäfte übernehmen soll, nicht mehr beteiligt sein. Sie stützen aber die Minderheitskoalition und werden somit weiterhin Einfluss ausüben. Das Misstrauen bleibt daher hoch.

Wie versuchen die serbischen Kräfte, die Menschen zu beeinflussen?

Nicht nur die pro-serbischen Parteien in Montenegro wollen die Ergebnisse beeinflussen. Auch aus Serbien gibt es Versuche, das Ergebnis zu den eigenen Gunsten zu verändern. So läuft schon länger eine, von Serbien aus finanzierte, aggressive Werbekampagne. Mit riesigen Plakaten oder Beiträgen auf Social Media sollen die Menschen überzeugt werden, sich als serbisch zu bezeichnen. Auch der serbische Präsident Aleksandar Vucic oder der Patriarch der auch in Montenegro einflussreichen serbisch-orthodoxen Kirche haben sich schon in die Debatte eingemischt. Für diese Kräfte ist Montenegro Teil der serbischen Welt. Die aktuell von einer Mehrheit vertretene montenegrinische Identität wollen sie langfristig in eine mehrheitlich serbische verwandeln.

Was erhofft sich Serbien?

Man erhofft sich mehr Einfluss auf Montenegro. Indem der Anteil der serbischen Bevölkerung erhöht wird, könnten die montenegrinischen Behörden unter Druck gesetzt werden, der serbischen Bevölkerung mehr Rechte zuzugestehen. Dadurch könnte Belgrad Einfluss auf die inneren Angelegenheiten des kleinen Nachbarlandes ausüben. Ähnliches ist in Bosnien & Herzegowina oder Kosovo zu beobachten. Beides sind Nachbarländer Serbiens, wo es ebenfalls grössere serbische Bevölkerungsteile gibt. Über Minderheitenrechte hat Serbien Hebel, um sich in die inneren Angelegenheiten dieser Länder einzumischen.

Gespaltene Gesellschaft

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Laut der letzten Volksbefragung von 2011 fühlen sich knapp 45 Prozent der Einwohner Montenegros als montenegrinisch und etwa 30 Prozent als serbisch. Die restlichen verteilen sich auf andere Minderheiten. Laut aktuellen Umfragen hat es seither leichte Verschiebungen zugunsten der serbischen und zuungunsten der montenegrinischen Seite gegeben.

Das dürfte auch mit der politischen Spaltung zu tun haben. 2020 ist es nach Jahrzehnten erstmals zu einem Machtwechsel gekommen, als bei den Wahlen die damalige Opposition an die Macht gekommen ist. Seither ist die Politik in Montenegro von Instabilität geprägt. Mehrere Regierungswechsel folgten in kurzer Zeit, die Politik betont vermehrt die Unterschiede. Das hat zu einer Polarisierung der Bevölkerung geführt. Auch die kommende Regierung konnte keine Mehrheit finden und wird daher eine Minderheitskoalition bilden. 

Was wollen die montenegrinischen Kräfte?

Serbien gegenüber stehen jene Kräfte, die sich selbst als montenegrinisch bezeichnen. Sie wollen eine stärkere Abgrenzung zu Serbien und sehen Montenegro dem Westen näher. Viele fürchten sich vor einer zu starken Einflussnahme des grossen Nachbars und haben Angst, dass Serbien Montenegro blockieren könnte. Schliesslich ist Montenegro als Land erst seit 2006 unabhängig von Serbien. Diese Unabhängigkeit sehen viele derzeit in Gefahr.

Rendez-vous, 27.10.2023, 12:30 Uhr

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