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Corona-Bekämpfung in Schweden «Wir hätten vieles besser machen können»

Schweden hat den Sonderweg gewählt. Epidemiologe Anders Tegnell hat den Weg mitbestimmt und übt nun Selbstkritik.

Täglich steht er um Punkt 14 Uhr auf der Bühne im Konferenzraum der schwedischen Volksgesundheitsbehörde in einem Stockholmer Vorort: Anders Tegnell, der 64-jährige Arzt und oberste Epidemiologe Schwedens.

Er trägt wie immer einen farbigen Pullover und braune Manchesterhosen, und strahlt auch bei seinem 62. offiziellen Auftritt seit Beginn der Pandemie eine vorsichtige Gelassenheit aus. «Die Zahl der Toten ist immer noch viel zu hoch, aber wir sehen einen Abwärtstrend», hält er fest.

In Schweden entscheiden Experten, nicht Politiker

Tatsächlich unterscheidet sich Schweden im Umgang mit dem Coronavirus markant vom übrigen Skandinavien und vielen anderen europäischen Staaten. In Schweden ist es nicht die politische Führung, die Regierung und das Parlament, welche die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beschliesst, sondern die zuständige Expertenbehörde, allen voran der oberste Coronabekämpfer Tegnell.

So funktioniert die schwedische Gewaltenteilung zwischen Politik und Verwaltung seit Jahrhunderten. Und noch eine andere schwedische Tradition hat die schwedische Coronastrategie massgeblich geprägt. Statt auf Zwangsmassnahmen setzt das nordische Land mit gut zehn Millionen Einwohner auf präventive Vorsichtsmassnahmen und die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger.

Kurve geht nur geringfügig zurück

Doch nun zeigt Schwedens Coronastrategie Schwächen. Seit Mitte April sind die Zahlen der täglich gemeldeten Neuinfektionen und Toten nur geringfügig zurückgegangen. Allein am Mittwoch wurden wieder über 150 Ansteckungsfälle und 60 Coronatote vermeldet. Insgesamt haben sich in Schweden bislang über 40'000 Menschen angesteckt. Über 4500 Personen sind an der Viruskrankheit gestorben.

Während die schwedische Öffentlichkeit und auch die Politik die Strategie der zuständigen Behörde bisher weitgehend unterstützte, übt nun aber der oberste Coronabekämpfer erstmals Selbstkritik: «Es ist ganz klar, dass wir vieles hätten besser machen können», betont Tegnell und nennt unter anderem den zu Beginn der Pandemie fehlenden Schutz der Alterspflegeheime, wo die meisten Todesopfer zu beklagen sind und die viel zu kleine Testkapazität im Land.

Nach Ausbruch der Krise verzichtete seine Behörde deshalb schon sehr schnell auf die Nachverfolgung von Infektionsketten.

Auch die Politik verlangt nach Antworten

Was genau schieflief und wie künftig in einer ähnlichen Situation besser agiert werden kann, möchte nun auch die Politik untersuchen. Regierung und Parlament konzentrierten sich bislang auf die wirtschaftlichen Abfederungsmassnahmen der Pandemie. Denn auch wenn Schweden auf einen Corona-Lockdown verzichtet hat, gerät das auf Exporte angewiesene Industrieland nun in eine Rezession mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 10 Prozent.

Eine parlamentarische Untersuchungskommission soll nun prüfen, ob auch in Zukunft die Expertenbehörden allein den Kurs angeben sollen oder ob, wie in vielen anderen Ländern, die Regierung das Zepter in die Hand nehmen sollte.

Tegnell bleibt sich aber trotz Selbstkritik treu und warnt vor voreiligen Schlussfolgerungen. Noch sei es zu früh, abschliessend festzuhalten, ob Schweden den falschen Weg durch die Pandemie gewählt habe.

Rendez-vous vom 04.06.2020

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