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Coronavirus in Iran «Es müssten deutlich mehr Infizierte sein»

Das Coronavirus hat mittlerweile fast alle Länder auf der Welt erfasst – besonders betroffen ist der Iran. Nach offiziellen Angaben starben allein am Montag 129 Menschen. Wenn man den Statistiken der Regierung glauben will, gibt es mehr als 15'000 Infizierte. Experten oder Journalisten üben am Vorgehen der Behörden und dem iranischen Gesundheitssystem scharfe Kritik. Journalistin Karin Senz über den schwierigen Umgang mit dem Virus im krisengeplagten Land.

Karin Senz

Journalistin

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Die deutsche Journalistin ist seit 2017 ARD-Korrespondentin in Istanbul und berichtet aus der Türkei. Zu ihrem Berichterstattungsgebiet gehören auch Griechenland und Iran.

SRF News: Wie glaubwürdig sind die offiziellen Zahlen in Iran bezüglich des Coronavirus?

Karin Senz: Das ist schwierig zu sagen. Ich war im Februar, als gerade die ersten Fälle bekannt wurden, im Iran. Regimeanhänger glauben natürlich an diese Zahlen. Sie glauben auch an die Verschwörungstheorie, dass die USA China mit diesem Virus angegriffen haben und es sich dadurch verbreitet hätte.

Bei vielen Menschen aber erlebe ich ein grosses Misstrauen gegenüber der obersten Führung. Durch den Flugzeugabschuss im Januar wurde dieses nochmals verstärkt. Das Regime hatte damals drei Tage lang behauptet, dass die Maschine einen technischen Defekt gehabt hätte, bis man endlich zugegeben hatte, dass man sie selber abgeschossen habe.

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Es dürfte also viel mehr Infizierte und Tote geben?

Experten wundern sich vor allem über die hohe Zahl an Menschen, die an dem Virus gestorben sind. Das sind über 850 Menschen. Wenn man das Ganze im Verhältnis zu den Infizierten betrachtet, müsste es deutlich mehr Infizierte geben. Das ist ein Hauptgrund, warum diese Zahlen angezweifelt werden.

Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, hat nach der Kritik am Vorgehen der iranischen Behörden die Armee damit beauftragt, dem Coronavirus nun Einhalt zu gebieten. Wie ist dieser Schritt zu erklären?

Der Armeechef hat auch gesagt, dass binnen 24 Stunden alles komplett geleert werden würde und sämtliche Staatsbürger getestet werden. Davon kann im Moment, zumindest nach meinen Informationen, keine Rede sein. Laut unserem Mitarbeiter haben die Geschäfte alle ganz normal offen und es gibt keine Ausgangssperre.

Die zunehmend angespannte wirtschaftliche Situation, welche durch das Coronavirus noch verschärft wird, bringt viele psychische Probleme für die Menschen hervor.

Im Land stehen am Wochenende das Neujahrsfest und anschliessend zwei Wochen Ferien an. Unter diesen Umständen ist eine Ausgangssperre schwierig. Wir hören aber, dass es Strassensperren in Richtung Norden geben soll, weil sich viele Menschen aufgrund der Ferien aus der Hauptstadt Teheran zu ihren Ferienhäusern begeben.

In Iran gibt es nur noch wenige westliche Journalisten. Wie kommen Sie an unabhängige Informationen?

Es ist so, dass man «off the record», also ohne Aufnahmegeräte, mit den Leuten sehr gut reden kann. Bei diesen Gesprächen spürt man die Wut der Bevölkerung auf das Regime. Sobald man das Aufnahmegerät aber einschaltet, schweigen viele. Man spürt auch eine gewisse Depression der Menschen, weil die Lage sehr aussichtslos ist, gerade was die Sanktionen der USA angeht.

Viele haben die Hoffnung verloren, dass sich an ihrer Situation etwas ändern könnte. In Teheran wähnt man sich einerseits in einer Weltstadt. Auf der anderen Seite gibt es eben keinen McDonald's, keinen Starbucks, viele Apps sind gesperrt und der Bargeldbezug an Schaltern ist durch die US-Sanktionen äusserst erschwert. Die Iraner haben sich an die Umstände gewöhnt, aber die zunehmend angespannte wirtschaftliche Situation, welche durch das Coronavirus noch verschärft wird, bringt viele psychische Probleme für die Menschen hervor.

Das Gespräch führte Raphaël Günther.

SRF 4 News, 17.3.2020, 08:24 Uhr ; 

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