Ein kalter, regnerischer Tag in Shanghai. In einem Park sitzt ein Mann in gelber Jacke, graues Haar, trauriger Blick. «Sie war so schwach. Sie hat es nicht überlebt», sagt der ehemalige Militärpilot. Seine 92-jährige Mutter hatte Corona. Vor wenigen Tagen ist sie gestorben.
Um 5 Uhr morgens habe das Spital angerufen und gesagt, es gehe bergab. Als er und seine Schwester eine Stunde später eintrafen, war die Mutter bereits tot. «Wir bekamen ungefähr zwei Stunden Zeit, um sie zu waschen, sie einzukleiden. Zwei Stunden. Und dann haben die Leute vom Bestattungsinstitut sie abgeholt. Und wir verabschiedeten uns für immer.»
Zu viele Tote verunmöglichen Beerdigung
Besonders belastend für die Familie seien die Umstände. «Uns wurde gesagt, die Behörden würden sich in ungefähr zwei Monaten melden, wenn wir die Asche abholen können.» Eine Beerdigung, eine traditionelle Abschiedszeremonie sei nicht möglich gewesen.
Zu viele alte Leute sterben derzeit im Zusammenhang mit Covid. Die Krematorien und Bestattungsinstitute sind überfordert. Die Verstorbenen werden offenbar in Kühllager gebracht, wo sonst Nahrungsmittel gelagert werden. Herr Sun zündet eine Zigarette an und sagt resigniert: «Wir können nichts machen. Nichts. Wir wissen nicht einmal, wo der Leichnam der Mutter gelagert wird.»
Viele seiner Freunde hätten ebenfalls in den letzten Wochen ihre Eltern verloren. «Das chinesische Neujahr ist dieses Jahr keine fröhliche Angelegenheit für uns. Wir hoffen, dass die Neujahrstage schnell vorbeigehen.» Zum Abschied sagt er dann doch noch etwas versöhnlicher: «Wenigstens war ich hier, als meine Mutter gestorben ist. Normalerweise lebe ich im Ausland.»
Das chinesische Neujahr ist dieses Jahr keine fröhliche Angelegenheit für uns.
Einige Strassen vom Park entfernt stehen zwei «Dabai» auf dem Trottoir. So werden in China die Pandemiearbeiterinnen und -arbeiter genannt, die in weisse Ganzkörper-Schutzanzüge gepackt sind, mit FFP2-Masken und Schutzbrillen.
Die beiden Frauen stehen neben ihrem Covid-Test-Häuschen, das in einigen Tagen geschlossen wird. Denn testen muss sich inzwischen kaum noch jemand. Dass sie mit der Aufgabe der Covid-Massnahmen auch ihren Job verlieren, das stört die Dabai nicht. «Nein. Jetzt, wo das Neujahr naht, denken wir ans Heimgehen. Wir waren seit drei Jahren nicht mehr daheim, seit 2019.»
Wir waren seit drei Jahren nicht mehr daheim, seit 2019.
Beide stammen aus der Provinz und wären eigentlich gerne bereits im vergangenen Jahr für die Feiertage zur Familie gereist: «Die Situation war aber unübersichtlich in Shanghai. Die Leute in der Heimat wollten nicht, dass wir zurückkehren. Wenn sie gehört haben, dass du aus Shanghai kommst, hatten sie Angst. Sogar mein Vater wollte nicht, dass ich über Neujahr nach Hause gehe. Wir fürchten uns vor Leuten aus Shanghai, sagte er.»
Und ohnehin war eine Rückreise zu Zeiten der Null-Covid-Massnahmen mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden. Covid-Tests, Quarantäne, die man selbst bezahlen musste, Quarantäne beim Zurückkommen. Das alles gibt es nicht mehr.
«Uns geht es gut. Wir haben keine Panik, selbst wenn wir jetzt den Job verlieren. Nach dem Neujahrsfest kommen wir zurück und suchen eine neue Arbeit», sagen die Dabai.
Wie sie, reisen in China heuer Millionen das erste Mal seit Jahren wieder zu ihren Familien, um gemeinsam mit ihnen die wichtigsten Feiertage im Jahr zu verbringen. In manch einer Familie wird aber am Tisch jemand fehlen.