In Europa wird das Szenario eines russischen Angriffes ernsthaft diskutiert. Wladimir Putin drehte den Spiess jüngst um – und warnte vor einem westlichen Angriff auf Russland. Der Osteuropa-Historiker Jeronim Perovic erklärt, welches Narrativ der Kreml-Chef damit bedient – und wie Russland heute auf Europa blickt.
SRF News: Glaubt Putin tatsächlich an einen westlichen Angriff gegen Russland?
Jeronim Perovic: Wir erleben in den letzten Wochen eine rhetorische Eskalation. Ich glaube aber nicht, dass Russland Angst vor einem europäischen Angriff hat. Allerdings unterstützt der Westen die Ukraine seit dem russischen Angriffskrieg massiv – und verhindert damit, dass Moskau seine Maximalziele erreichen kann.
Nun wenden sich die USA vermehrt von der Ukraine ab und kommen russischen Forderungen entgegen. Plötzlich erscheint Europa als Störfaktor. Deshalb stellt Putin die Europäer nun als Kriegstreiber dar.
Was lösen solche Warnungen in Russland aus? Glauben die Menschen das?
Sie sind seit vielen Jahren russischer Staatspropaganda ausgesetzt. Putin stellt die «Spezialoperation» nicht als Krieg gegen die Ukraine dar, sondern als Abwehrkampf gegen den kollektiven Westen. Dieser nutze die Ukraine, um Russland zu schwächen und zu zerschlagen.
Putin und sein Umfeld betonen Russlands zivilisatorische Eigenständigkeit und Überlegenheit gegenüber dem ‹dekadenten Westen›.
Dieses Narrativ kommt bei der Bevölkerung an. Das russische Staatsfernsehen zeigt zerstörtes westliches Kriegsmaterial in der Ukraine. Da braucht es gar nicht mehr viel Propaganda, um das Narrativ glaubhaft zu machen.
Im Laufe der russischen Geschichte veränderte sich das Bild von Europa immer wieder. Wie prägt das die Beziehungen?
Diese Beziehung war immer ambivalent. Seit der frühen Neuzeit hat Russland in Europa ein Vorbild gesehen, vor allem was technisch-industrielle Entwicklung anging. Katharina II. hat Ende des 18. Jahrhunderts erklärt, dass Russland eine europäische Macht sei. Umgekehrt hat Russland auch für die europäische Geschichte eine wichtige Rolle gespielt.
Trotzdem gab es immer wieder Bewegungen in Russland, die das Land nicht als europäische Macht verstanden, sondern als eigene Zivilisation, als orthodoxe, slawische Macht. Diese Auseinandersetzung blieb im Grunde ein Merkmal der gesamten russischen Geschichte.
Wie ist der russische Blick auf Europa heute?
Russland anerkennt, dass der Westen technologisch fortschrittlicher ist. Gleichzeitig betonen Putin und sein Umfeld Russlands zivilisatorische Eigenständigkeit und Überlegenheit gegenüber dem «dekadenten Westen». In ihrer Erzählung hat Europa seine traditionellen christlichen Werte verloren und Russland dient als Vorbild.
Europa sollte sich nicht auf ein rhetorisches Ferngefecht einlassen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Russland zu erziehen oder zu belehren.
Damit wollen sie diejenigen Kräfte im Westen ansprechen, die ähnliche Positionen vertreten. Seien es die rechtsnationalen Kräfte in Europa oder auch die Trump-Regierung. Ihre Rhetorik ist derjenigen des Kremls ja nicht unähnlich.
Heute ist Russland im Westen meist synonym für Putin. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind die Kontakte weitgehend abgebrochen. Ist diese Entfremdung eine Hypothek für die Zukunft?
Diese Abkoppelung erleben auch wir als Akademiker. Es herrscht weitgehend Funkstille zu unseren russischen Kollegen. Es wird lange dauern, diese Kontakte wieder herzustellen. Gleichzeitig sollte sich Europa nicht auf ein rhetorisches Ferngefecht einlassen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Russland zu erziehen oder zu belehren. Vielmehr sollten wir an unseren demokratischen Werten und Freiheiten festhalten, sie schützen und pflegen.
Das Gespräch führte Zita Affentranger.