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Debatte um Flüchtlingsrettung «Bei Lebensgefahr muss ein Schiff anlegen können»

Italien und die Sea-Watch-Kapitänin vertreten ungleiche Standpunkte – und das Recht liefert nicht immer klare Antworten.

Am vergangenen Samstag hatte Carola Rackete das Rettungsschiff «Sea-Watch 3» mit 40 Migranten an Bord unerlaubt nach Italien gesteuert. Nach der Anlandung wurde die 31-jährige Deutsche festgenommen. Ein Gericht muss nun klären, wie das umstrittene Manöver einzustufen ist. Alexander Proelss, Professor für internationales Seerecht und Umweltrecht, erläutert die Sachlage.

Alexander Proelss

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Professor Dr. Alexander Proelss hat seit Oktober 2018 den Lehrstuhl für internationales Seerecht und Umweltrecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg inne. Proelss ist zudem an zahlreichen nationalen wie internationalen Forschungsprojekten beteiligt.

SRF: Hat die Kapitänin der Sea-Watch 3 korrekt gehandelt, als Sie am Wochenende einen italienischen Hafen trotz Landungsverbot anlief?

Alexander Proelss: Grundsätzlich sind Küstenstaaten völkerrechtlich befugt, ihre Häfen für fremde Schiffe zu sperren. Auf der anderen Seite steht die Pflicht der Schiffe aller Staaten, Menschen in Seenot zu retten und an einen sicheren Ort zu verbringen. Das Problem ist, dass es – mit Ausnahme von Operationen unter Mandat der europäischen Grenz- und Küstenwache «Frontex» – keine korrespondierende Pflicht von Küstenstaaten gibt, das Anlanden von aus Seenot geretteten Menschen in ihren Häfen zu dulden.

Etwas anders gilt nach dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Nothafenrecht aber dann, wenn sich die Situation an Bord eines Schiffes so verschlechtert, dass Gefahr für Leib und Leben der Geretteten und/oder der Besatzung besteht. In diesem Fall muss der Hafenstaat die Anlandung des Schiffes dulden. Im Fall der Sea-Watch 3 legen die verfügbaren Informationen zumindest nahe, dass eine solche Notlage bestand.

Entscheidend ist immer, an welchem Ort am effektivsten gewährleistet ist, dass die Seenotlage endet.

Wäre auch ein anderer Hafen als «sicherer Ort» in Frage gekommen?

Theoretisch schon. Das Seevölkerrecht gibt nicht allgemein vor, welcher Hafen als «sicherer Ort» zu qualifizieren ist. Die Bestimmung des sicheren Ortes ist vielmehr eine Frage des Einzelfalls. Entscheidend ist aber immer, an welchem Ort am effektivsten gewährleistet ist, dass die Seenotlage endet. Insbesondere dürfen Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, nicht in einen Staat verbracht werden, in dem die Gefahr besteht, dass sie in ihren Menschenrechten verletzt werden.

Haben die Passagiere ein Recht darauf, an Land zu dürfen?

Vorbehaltlich spezieller vertraglicher Regelungen gibt es kein Recht Einzelner, das Territorium eines fremden Staates zu betreten. Im konkreten Zusammenhang der Seenotrettung fehlt es insbesondere an einer allgemeinen Pflicht der Küstenstaaten, das Anlanden von aus Seenot geretteten Menschen in ihren Häfen zu dulden. Wenn aber in einem konkreten Fall eine Notlage an Bord des Rettungsschiffes besteht und damit das Nothafenrecht zur Anwendung gelangt, wird man meines Erachtens davon ausgehen müssen, dass die Passagiere das Festland betreten dürfen. Sonst würde wiederum der grundlegende seevölkerrechtliche Pflicht, die Seenotlage effektiv und dauerhaft zu beenden, missachtet.

Durfte die Kapitänin beim Anlegen in Kauf nehmen, ein Patrouillenboot der Finanzpolizei zu beschädigen?

Das Seevölkerrecht äussert sich hierzu nicht. Die Rechtsfolgen der etwaigen Beschädigung eines fremden Schiffs sind daher nach dem nationalen (hier also italienischen) Recht zu beurteilen. Dies ändert aber nichts am Bestand des Nothafenrechts.

Das Interview führte Christian Rensch in schriftlicher Form.

Am 29. Juni legt die Sea Watch in Lampedusa an.
Legende: Am 29. Juni legte die Sea Watch in Lampedusa an. Rackete sagte: «Ich wollte nur erschöpfte Menschen an Land bringen». Keystone/Archivbild

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