Gemessen an den aktuellen Schlagzeilen aus dem Nahen Osten, zeichnet Botschafter Amir Weissbrod ein verblüffend positives Bild. Die Zusammenstösse und Gewalttaten beschränkten sich auf wenige Gebiete, relativiert er.
Aus den besetzten palästinensischen Gebieten kämen immer noch sehr viele zum Arbeiten nach Israel, aus Gaza sogar immer mehr. Für Weissbrod sind dies Zeichen der Normalität. Zudem wollten die israelische und die palästinensische Führung im Westjordanland dasselbe, nämlich verhindern, dass sich in den besetzten Gebieten radikale Kräfte durchsetzen.
Ungeklärte Nachfolge von Präsident Abbas
Die Ursache für die wachsenden Spannungen gerade jetzt sieht der israelische Spitzendiplomat – wenig überraschend – nicht bei der neuen, sehr rechten Regierung in Jerusalem. Vielmehr sei der Machtkampf um die Nachfolge des betagten palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas dafür verantwortlich.
Weil der sich seit Jahren weigere, Wahlen durchzuführen, stecke seine Regierung in einer Legitimationskrise. Aus israelischer Sicht bedeute das: Für einen Friedensprozess hin zu einer dauerhaften Lösung sei momentan nicht der richtige Zeitpunkt, mögen die USA und die UNO noch so sehr darauf drängen.
Zurzeit stimme das Umfeld nicht, zunächst brauche es Ruhe und Stabilität. Doch will die neue Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu überhaupt eine Zweistaatenlösung mit einem palästinensischen neben einem israelischen Staat? Das lässt Weissbrod offen und sagt nur: «In der Vergangenheit hat Israel, auch Netanjahu, dazu Hand geboten.»
Israel will in der UNO aktiv bleiben
Auch beim stets schwierigen Verhältnis Israels zu den Vereinten Nationen sieht Weissbrod eine Entkrampfung. Zwar habe man mit einzelnen UNO-Organen grosse Probleme, nicht zuletzt mit dem Menschenrechtsrat.
Dort wird Israel tatsächlich weitaus häufiger an den Pranger gestellt als selbst despotische Regime wie das nordkoreanische, das syrische oder das iranische. Trotzdem sei man entschlossen, sich in zahlreichen UNO-Gremien zu engagieren. Israel könne viel einbringen, besonders beim Kampf gegen den Klimawandel, in der Agrar- oder Wassertechnologie.
Entspannung im Verhältnis mit Golfstaaten
Fast schon enthusiastisch sieht Weissbrod das Verhältnis zu den arabischen Golfstaaten. Da gebe es viele gemeinsame Interessen: wirtschaftliche, sicherheitspolitische und das tiefe Misstrauen gegenüber dem Iran.
Der Diplomat glaubt, nach den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Bahrain werde auch das politische Schwergewicht Saudi-Arabien seine Beziehungen zu Israel normalisieren – wenngleich nicht schon morgen oder übermorgen.
Zwar gebe es so bald keine EU im Nahen Osten, aber dank der sogenannten Abraham-Abkommen erheblich mehr Kooperation. Und schliesslich bleibe die Beziehung zu Washington stabil, und zwar obschon Premier Netanjahu bereits in seiner früheren Amtszeit sehr einseitig auf die Republikaner setzte.
Insgesamt klingen Amir Weissbrods Einschätzungen bemerkenswert zuversichtlich. Sie kontrastieren stark zu den aktuellen Berichten aus der Region. Ebenso zu den schroffen Tönen aus der neuen Ministerriege in Jerusalem. Was ist Zweckoptimismus, was nüchterne Analyse? Es gibt wohl von beidem etwas.