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Deutsche Koalitionsregierung «Alle Parteien wissen, dass sie bei Neuwahlen abstürzen würden»

In Deutschland ist das Regierungsbündnis aus SPD, Grünen und FDP zwei Jahre nach den Wahlen ziemlich zerstritten. Der Publizist Albrecht von Lucke ordnet die Entwicklung und den Zustand der deutschen Regierung aus seiner Sicht ein.

Albrecht von Lucke

Politologe, Jurist und Publizist

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Der Politologe, Jurist und Publizist ist seit 2003 Redaktor der «Blätter für deutsche und internationale Politik», einer politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift in Berlin. Darüber hinaus ist er freier Autor.

SRF News: Wie beurteilen Sie den Zustand der sogenannten Ampelkoalition?

Albrecht von Lucke: Der Zustand der Ampel ist im Erscheinungsbild desaströs. Die letzten Landtagswahlen in Bayern und Hessen waren ein Stück weit Abbild der Stimmung im Lande. Die Ampelparteien kommen bei Umfragen noch auf Werte von 35 Prozent der Stimmen. Sie sind in Umfragen regelrecht abgewählt worden. Das ist einem Umstand geschuldet: Diese Regierung hat keine klare gemeinsame Linie gehabt, keine klare Führung durch den Bundeskanzler. Viele in der Bevölkerung plädieren bereits dafür, die Regierung in dieser Zusammensetzung zu beenden.

Wie schädlich waren die internen Positionskämpfe der Regierungsparteien – zum Beispiel die ums Gebäudeenergiegesetz?

Sie waren fatal. Das liegt in der Grundanlage dieser Koalition. Die FDP wollte so etwas wie die ökonomische Stimme der Vernunft gegen Rote und Grüne sein. Diese Haltung wurde mit Vehemenz ausgespielt. Natürlich hatten die Grünen auch Schwächen in der Anlage des Gebäudeenergiegesetzes. Aber indem die FDP die Grünen regelrecht als Sicherheitsrisiko in der Koalition bezeichnet hat, haben sie ein schlechtes Bild der Koalition erzeugt. Und wenn darüber ein Kanzler steht, der die Führung nicht übernimmt und die Streitparteien nicht zur Disziplin aufruft, dann ist das verheerend.

Ein Plakat mit der Aufschrift: Kriegstreiber! Die Ampel muss weg!
Legende: Die deutsche Koalitionsregierung ist in Teilen der Bevölkerung schwer umstritten, wie dieses Plakat an einer Demonstration in Gera Anfang Oktober zeigt. Keystone/Bodo Schackow

Ist die Ampelregierung noch zu retten?

Der Kitt der Macht hält diese Parteien zusammen. Alle drei Parteien wissen, dass sie bei Neuwahlen abstürzen würden.

Man kann normalerweise Koalitionen nur im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums beenden. Das heisst, es muss eine nächste Koalition zum Vorschein kommen.

Dazu kommt das deutsche Grundgesetz: Die bundesrepublikanische Demokratie hat aufgrund der Lehren aus der Geschichte des Nationalsozialismus den Schluss gefunden, dass so etwas wie eine Fortsetzung stattfinden muss. Man kann normalerweise Koalitionen nur im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums beenden.

Das heisst, es muss eine nächste Koalition zum Vorschein kommen. Und das ist angesichts der Tatsache, dass die CDU nun regieren würde, völlig ausgeschlossen. Wenn also nicht eine der Parteien aufgibt, dann wird diese Koalition zwei weitere Jahre durchhalten. Momentan hat man ein wenig den Eindruck, dass Kanzler Olaf Scholz mit seiner starken Intervention vor allem in Nahost versucht, einen neuen Anfang zu machen.

Wenn erst die grosse Bodenoffensive beginnt, wird die Frage auftauchen, ob diese Ampel in der Lage ist, den inneren Frieden zu stiften.

Was kann die Ampelregierung im jetzigen Moment machen, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen?

Sie muss geschlossen agieren. Die neue Lage ist gewissermassen eine Chance, weil die Geschlossenheit in der Aussenpolitik die völlige Zerstrittenheit in der Innenpolitik kaschiert. Was wir gegenwärtig auf deutschen Strassen in Form von Unruhen und Gewalt erleben, ist nur ein Vorschein dessen, was möglicherweise noch kommt. Wenn erst die grosse Bodenoffensive beginnt, dann wird die Frage auftauchen, ob diese Ampel in der Lage ist, den inneren Frieden zu stiften. Halten da die drei Parteien auch zusammen?

Man sieht ja bereits auf dem Feld der Migration, dass die Kluft speziell zwischen Grünen und FDP immer noch sehr gross ist. Das heisst, wenn es nicht gelingt, die Geschlossenheit zu halten, dann wird die Stimmung weiter gegen die Ampel zunehmen. Ich befürchte, dass alle Anzeichen dafür sprechen, dass diese Geschlossenheit kaum herzustellen ist.

Das Gespräch führte Iwana Pribakowitsch.

Rendez-vous, 20.10.2023, 12:30 Uhr ; 

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