«Germany’s Nazi Past Is Still Present» («Deutschlands Nazi-Vergangenheit ist noch immer gegenwärtig») titelte die New York Times, nachdem Neonazis in den Strassen von Chemnitz unverhohlen den Hitlergruss zeigten. Die vermeintlich liberale Modelldemokratie habe ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt, so die Diagnose des renommierten US-Blatts.
Doch auch in der deutschen Medienlandschaft werden Warnungen laut. Das enthemmte Auftreten rechtsextremer Pöbler und der Aufstieg der AfD erinnerten an dunkle Kapitel der deutschen Geschichte. Und auch die Politik hadert mit Vergangenheit und Gegenwart.
Im Bundestag wetterte ein SPD-Abgeordneter gegen die «unappetitlichen Rechtsradikalen» der AfD: «Hass macht hässlich, schauen Sie mal in den Spiegel!» – und auch der gescheiterte Kanzlerkandidat Martin Schulz blies zur Attacke. Zum AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland sagte er: «Sie gehören auf den Misthaufen der deutschen Geschichte.»
In der zeitweise überdrehten, fatalistisch geführten Debatte steht das Buch «Das Integrationsparadox» wie ein Papier-gewordenes «Moment mal!». Darin vertritt der Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani die These: «Je besser die Integration von Ausländern – desto mehr Konflikte gibt es.»
Denn, so El-Mafalaani: Im neuen Deutschland verhandelten gesellschaftliche, ethnische und religiöse Minderheiten heute auf Augenhöhe mit der Mehrheitsgesellschaft – wodurch Reibung und Konflikte entstehen: «Im Kern bedeutet Integration, dass mehr Menschen teilhaben können, seien das Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle oder eben Muslime oder Migranten.»
Wenn mehr Menschen am Verhandlungstisch sässen, so der Politologe, sei es «hochgradig unplausibel», dass mehr Harmonie entstehe. Früher seien diese Streitigkeiten nicht offen ausgetragen worden, weil man sich schlichtweg ignoriert habe: so etwa die türkische Putzfrau mit Kopftuch, die unbemerkt die Teppichetagen reinigte.
Wir schreien im Moment, wir streiten nicht.
Die Gegenthese dafür, dass Deutschland zusammenwächst, könnten Bilder vom Wochenende liefern. In Köln wurde die Zentralmoschee eröffnet – kein einziger deutscher Würdenträger war anwesend. «Neu sind solche Bilder nicht. Das gab es auch vor zehn, dreissig oder fünfzig Jahren», relativiert El-Mafaalani – und fügt an: «Es hat uns nur nicht interessiert.»
Neu sei aber, dass Integration heute besser gelinge als früher. Wer die schrille Tonlage auf den sozialen Medien beobachtet, dürfte zweifeln, ob der Streit in der Migrationsfrage tatsächlich so fruchtbar ist. El-Maafalani will nichts schönreden. Er sagt aber: «Wir schreien im Moment, wir streiten nicht.»
Für den Integrationsexperten ist Streit nicht Ausdruck davon, dass es immer mehr Konflikte in der Gesellschaft gibt: «Wer das nicht versteht, droht in Hysterie zu verfallen», sagt El-Maafalani – und fordert Streitkultur statt Leitkultur: «Wir müssen aus diesem Streit heraus wachsen.»
Beängstigende Harmonie
Grundsätzlich sei die deutsche Gesellschaft noch nie so offen und aufgeschlossen gewesen wie heute, ist El-Mafalaani überzeugt. Auch wenn sich eine Gegenbewegung formiere, die sich sowohl aus nationalistisch-rassistischen wie auch religiös-fundamentalistischen Ideologien speise.
Gesellschaften wie die deutsche, aber auch die Schweiz könnten alles gebrauchen – nur nicht zu viel Harmonie, schliesst El-Mafaalani: «Sobald es zu harmonisch wird, muss man skeptisch werden.» Denn Harmonie in grösseren Gruppen gebe es nur in religiösen Sekten, sehr autoritären Familien und in Diktaturen.