Sie traut sich abends kaum noch auf die Strasse. In der Handtasche trägt sie Pfefferspray. Die Stadt sei unsicher geworden, sagt Heike Schöne aus Chemnitz. Sie ist 57 Jahre alt, lebt in einer Ein-Zimmer-Wohnung im Plattenbaugebiet. Dort leben viele Alte, aber auch viele Ausländer. Und genau vor denen hat Heike Schöne Angst.
Sogar vor den Kindern, die ausländische Wurzeln haben. «Auf den Strassen betteln die Kleinen schon um Zigaretten», sagt sie. «Und wenn du Nein sagst, dann wirst du angespuckt. Wenn du mit der Polizei drohst, sagen die, die tun uns doch nichts.»
Thaer Ayoub aus Aleppo
Er ist Flüchtling aus Aleppo, sass dort im Gefängnis, kam über die Balkanroute nach Deutschland – der 28jährige Thaer Ayoub. Seit vier Jahren lebt er in Chemnitz. Das erste Jahr hat er sich nicht aus der Wohnung getraut, nur gerade zum Einkaufen. Er sei mehrmals angepöbelt und bespuckt, einmal sogar von Neonazis spitalreif geschlagen worden.
Mittlerweile hat er Deutsch gelernt, er verteidigt sich mit Worten. Er bezieht Hartz IV, schreibt zuhause Gedichte und malt. Von Chemnitz will er lieber heute als morgen weg – in eine grössere Stadt, wo es weniger Gewalt gegen Fremde gibt. «Ich bin nicht beleidigt», sagt er. «Aber es nervt, dass man solche Situationen erlebt und nicht in Frieden auf der Strasse laufen kann.»
Wutbürgerin trifft Flüchtling
Beide, Heike Schöne und Thaer Ayoub, sind in den letzten zehn Tagen fast täglich auf die Strasse gegangen. Beide haben gegeneinander demonstriert, beide kennen sich nicht. Normalerweise würden sie sich aus dem Weg gehen.
Die «Rundschau» hat die beiden zusammengeführt. «Ausländer müssen sich anpassen», belehrt Heike Schöne den Flüchtling gleich nach der Begrüssung. «Das wollen wir», sagt der Syrer, «aber das braucht Zeit.» Die Deutsche sieht sich in der Opferrolle. «Nur weil wir gegen kriminelle Ausländer sind, werden wir als Nazis dargestellt.» Thaer Ayoub entgegnet: «Und wir Ausländer werden Terroristen genannt. Mit diesen Pauschalisierungen erleben Sie jetzt, womit ich als Flüchtling ständig leben muss.»
«Beide Seiten sollten mal miteinander reden», sagen die zwei, bevor sie sich zum Abschied die Hand reichen. In Chemnitz wird derzeit nicht viel geredet, sondern demonstriert. Und dies unter Bewachung von 1’800 Polizisten.