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Die zwei Gesichter der Taliban Afghanistan: Warum die Taliban zurück an die Macht fanden

Als die Taliban letzten Sommer die Macht übernahmen, brach für die Menschen in den Städten die Welt zusammen. Den Leuten in den Dörfern aber haben die Kämpfer Frieden gebracht. Denn für sie gab es die letzten 20 Jahre nicht Fortschritt und Entwicklung, sondern Krieg.

Die ländlichen Regionen im Süden Afghanistans waren bereits Taliban-Gebiet, lange bevor der frühere Präsident Ashraf Ghani letzten Sommer fluchtartig das Land verliess.

 In der Windschutzscheibe eines Autos spiegelt sich die Flagge des Islamischen Emirates Afghanistans.
Legende: Fahrt in die Provinz Khost im Süden Afghanistans. In der Windschutzscheibe die Flagge des Islamischen Emirates Afghanistans. Thomas Gutersohn

Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt im Süden Afghanistans, der Grossteil sind Paschtunen, so wie die meisten Taliban auch. Und: Zwei Drittel sind unter 20 Jahre alt, sie kennen also nur das Afghanistan seit dem Einmarsch der US-Truppen 2001.

Eine Zeit, die hier nicht geprägt war von Fortschritt, Frauenrechten, zivilen Freiheiten und wirtschaftlichem Aufschwung, sondern von Krieg.

Ein Krieg, den die USA und ihre Verbündeten brachten.

In der südafghanischen Provinz Khost führt eine Schotterpiste durch ein ausgetrocknetes Flussbett in das Dorf Zawra, nur wenige Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt.

Die Grenzmauer zwischen Pakistan und Afghanistan.
Legende: Die Grenzmauer zwischen Pakistan und Afghanistan. Aaquib Khan

Strom gibt es hier nicht. Eine Handyverbindung nur auf einem der Hügel. Die rund 80 Familien leben vom Kartoffelanbau.

Was sich hier im Februar 2002 abspielte, kommt dem heute 25-jährigen Ramanullah Boran wie ein Traum vor. Wie ein Albtraum: «Ich war damals ein kleiner Junge, als mein Vater zu Grabe getragen wurde. Er kam bei einem der ersten Drohnenangriffe der US-Luftwaffe im Land ums Leben.»

Der junge Ramanullah Boran am Ort, wo sein Vater von einer US-Drohne getötet wurde.
Legende: Der junge Ramanullah Boran am Ort, wo sein Vater von einer US-Drohne getötet wurde. Thomas Gutersohn

Sie nennen die Drohnen Be-Pilote. Ohne Pilot. Diese würden noch immer um ihr Dorf, um ihre Köpfe herumschwirren – wie Mosquitos, sagt der junge Ramanullah.

Er ist mit dem Ton aufgewachsen, hat sich daran gewöhnt. Doch seine Mutter wird noch immer wütend, wenn immer sie die Drohnen hört: «Mein Blut brodelt wie heisses Wasser im Kochtopf, wann immer ich die Drohnen höre. Ich konnte meinen Mann nicht einmal richtig begraben.»

Ramanullah Borans Mutter zeigt Fotos von ihrem Mann, der 2002 bei einer Drohnenattacke ums Leben kam.
Legende: Ramanullah Borans Mutter zeigt Fotos von ihrem Mann, der 2002 bei einer Drohnenattacke ums Leben kam. Aaquib Khan

Nach muslimischer Tradition wird ein Leichnam in ein weisses Tuch gehüllt, der Kopf in Richtung Mekka ausgerichtet. Aber da sei kein Kopf, kein Körper gewesen, sagt die Frau.

Bin Laden als Auslöser von Drohnenangriffen

Das Dorf Zawra ist dem amerikanischen Geheimdienst bekannt. Hier hat die CIA in den 1980er-Jahren Mujaheddin ausgebildet, sogenannte Gotteskrieger im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer. Auch Osama Bin Laden soll damals hier Kampferfahrungen gesammelt haben.

Ein vermeintliches Trainingslager der Mujaheddin-Kämpfer der 1980er-Jahre.
Legende: Ein vermeintliches Trainingslager der Mujaheddin-Kämpfer der 1980er-Jahre. Aaquib Khan

20 Jahre später, 2001, als die westlichen Truppen einmarschierten, wurde Bin Laden wieder hier vermutet. Deshalb die Drohnenangriffe. «Kurz nach dem Angriff, bei dem mein Vater getötet wurde, kamen ausländische Soldaten vorbei und nahmen Gewebeproben von den sterblichen Überresten», erzählt Ramanullah Boran. «Seither ist niemand mehr hier vorbeigekommen. 20 Jahre lang nicht.»

13'000 Drohnenangriffe der USA

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Laut dem Büro für Investigativ-Journalismus haben die USA rund 13'000 Drohnenangriffe in Afghanistan geflogen. Zwischen 4000 und 10'000 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Wie viele Zivilisten sich darunter befanden, weiss niemand genau.

Drohnen sind das eine. Der US-Geheimdienst unterhielt auch speziell ausgebildete afghanische Bodentruppen, die den Menschen in der Region das Leben schwer machten: die Khost Protection Force, kurz KPF. Eine rund 3000 Mann starke Einheit.

Die Stadt Khost im Morgenlicht.
Legende: Die Stadt Khost im Morgenlicht. Aaquib Khan

Ihre Aufgabe war es, die Taliban aufzuspüren, die sich in Khost versteckt hielten. Buchstäblich jedes Kind stand unter Verdacht.

«Es geschah während des Fastenmonats Ramadan vor einem Jahr», sagt Shakirullah. Sein Haus befindet sich in einem Aussenquartier der Stadt Khost, an einer viel befahrenen Strasse. Auf einem Geröllfeld spielen Kinder Cricket. Hier spielte auch sein damals neun Jahre alter Sohn Khabir.

Ein Junge sitzt da, wo Khabir vor einem Jahr erschossen worden ist.
Legende: Ein Junge sitzt da, wo Khabir vor einem Jahr erschossen worden ist. Thomas Gutersohn

«Die Kinder haben mit Feuerwerk gespielt, wie das so üblich ist kurz vor dem Fastenfest. Das mag wohl die Aufmerksamkeit der Soldaten geweckt haben. Kurz vor dem Einnachten haben sich die Kämpfer meinem Sohn genähert und ihm ohne Vorwarnung mitten durchs Herz geschossen», sagt Shakirullah. Die Beerdigung habe am Tag des Fastenfestes stattgefunden. Die ganze Familie sei wie gelähmt gewesen.

Schicksale wie jene von Shakirullahs Familie gibt es viele in Khost. Man spricht von Hunderten willkürlicher Tötungen dieser Spezialeinheit. «Mehrmals habe ich um eine Aufklärung der Tat gebeten. Jedes Mal musste ich den Behörden erklären, was genau geschah. Doch der Fall wurde nicht weiterverfolgt, weil die KPF involviert war», sagt Shakirullah.

Die Einheit war von jeder Strafverfolgung befreit. Was sie auch tat: Es durfte nicht untersucht werden. Was der Geschäftsmann auch heute noch nicht versteht, ist, wie das Land so weit kommen konnte, dass das Militär die eigenen Landsleute umbringt.

Der gut fünfzigjährige Geschäftsmann Shakirullah, Vater des letzten Jahres von KPF-Soldaten getöteten Khabir.
Legende: Der gut 50-jährige Geschäftsmann Shakirullah, Vater des letzten Jahres von KPF-Soldaten getöteten Khabir. Aaquib Khan

«Das waren keine Amerikaner», sagt er. «Es waren Afghanen, die meinen Sohn getötet haben.» Die USA liessen es nicht zu, dass mutmassliche Kriegsverbrechen untersucht werden, für die sie oder ihre afghanischen Verbündeten verantwortlich sein könnten.

Die USA verhindern Untersuchungen

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Als der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag im März 2020 Untersuchungen aufnahm, verhängte der damalige Präsident Donald Trump persönlich Reise-Restriktionen gegen die damalige Chefanklägerin aus Ghana und fror ihre Bankkonten ein.

Taliban als Vorbild für junge Generation

Genau diese Verbrechen haben die mehrheitlich jungen Afghanen, die während der Kriegsjahre aufgewachsen sind, in die Fänge der Taliban getrieben. Für viele von ihnen sind die Taliban Freiheitskämpfer. Eine Art Che Guevaras, die ihr Land gegen ausländische Invasoren verteidigten.

Auch die beiden Brüder Sardar und Niyas Mohammed haben sich vor gut zehn Jahren den Taliban angeschlossen.

Ein Selfie der beiden Brüder Sardar (links) und Niyaz Mohammed (Dritter von links).
Legende: Ein Selfie der beiden Brüder Sardar (links) und Niyaz Mohammed (Dritter von links), die sich vor gut zehn Jahren den Taliban angeschlossen haben. Sardar Mohammed

Die beiden fahren im Auto auf der Ring-Road, die alle grossen Städte des Landes verbindet. Die Strasse ist gezeichnet vom Krieg, der hier noch bis letztes Jahr herrschte: zerbombte Brücken, unzählige Krater. Das Werk der Taliban. Und auch das Werk der beiden Brüder.

Eine zerstörte Brücke auf der Ring-Road zwischen Kabul und Kandahar.
Legende: Eine zerstörte Brücke auf der Ring-Road zwischen Kabul und Kandahar. Thomas Gutersohn

«Unsere Ziele waren die Militärkonvois der Amerikaner oder der Regierungstruppen», sagt Sardar Mohammed, der jüngere der beiden Brüder. Sie platzierten die Bomben in Kanalrohren unter der Strasse und liessen sie sie mit einer Fernbedienung explodieren. Er war damals keine 20 Jahre alt.

Wir sind sieben Brüder in unserer Familie. Vier haben sich den Taliban angeschlossen.
Autor: Sardar Mohammed Taliban-Kämpfer

Sardar Mohammed schloss sich den Taliban an, sobald ihm ein Bart wuchs. Ausschlaggebend dafür war eine Nacht im Jahr 2007, als ausländische Truppen in seinem Dorf Hausdurchsuchungen durchführten: «Die Soldaten haben meinen Vater und sechs meiner Onkel getötet. Sie haben jeden erschossen, der aus dem Haus trat.»

Laut den Erzählungen der Taliban seien damals rund 40 Menschen umgebracht worden. «Wir sind sieben Brüder in unserer Familie. Vier haben sich den Taliban angeschlossen.»

Mit jeder Tötung vermeintlicher Talibankämpfer wuchs eine Vielzahl tatsächlicher Kämpfer nach, wie die Köpfe einer Hydra.

Ein Checkpoint der Taliban in Khost. Die Kämpfer tragen die Uniformen der Soldaten der früheren afghanischen Armee.
Legende: Ein Checkpoint der Taliban in Khost. Die Kämpfer tragen die Uniformen der Soldaten der früheren afghanischen Armee. Thomas Gutersohn

Aus dem eigenen Haus vertrieben

Je länger sich der Krieg hinzog, desto mehr zivile Opfer gingen aufs Konto der alliierten Truppen: 2019 stellte die UNO fest, dass die US-Truppen mit ihren afghanischen Verbündeten etwa gleich viele Zivilisten getötet hatten wie die Taliban.

Bericht der Vereinten Nationen

Tausende starben, doch noch mehr mussten wegen des Krieges ihr Haus verlassen: 3.5 Millionen Afghaninnen und Afghanen. Zu ihnen gehören Shekiba und Agha Mohammed. In ihrem Dorf Arghandab, ausserhalb von Kandahar, wurde vor einem Jahr noch gekämpft. Über Monate hausten sie in einem Flüchtlingslager in der Stadt.

«Nach der Machtübernahme der Taliban konnten wir wieder in unser Haus in Arghandab zurückkehren», sagt Agha Mohammed.

Und auch seine Frau Shekiba pflichtet ihm bei: «Die Situation ist nun besser, jetzt wo der Krieg vorbei ist. Ich kann nun wieder auf den Markt und meine Kinder in die Madrassa schicken. Das war während den letzten Jahren nicht möglich, wegen des Krieges.»

Agha Mohammed und seine Frau Shekiba in ihrem Haus in Arghandab in der Provinz Kandahar.
Legende: Agha Mohammed und seine Frau Shekiba in ihrem Haus in Arghandab in der Provinz Kandahar. Thomas Gutersohn

Shekiba sitzt am Boden auf einem durchgewetzten Teppich und hüllt sich in ein Tuch, das sie mit ihren Zähnen festhält. Vor einem Jahr noch fürchtete sie sich vor einer Rückkehr der Taliban. Heute ist sie froh, dass diese an der Macht sind. «Ich fürchte mich nicht vor den Taliban. Sie lassen mich in Ruhe.»

Aus Hoffnungslosigkeit wollen sie die Tochter verkaufen

Der Krieg mag vorbei sein. Was bleibt, ist die Armut. Die Bevölkerung auf dem Land wurde besonders hart getroffen letztes Jahr, denn zum politischen Umbruch kam eine Dürre hinzu. Kaum ein Bauer konnte etwas ernten, der letzte Winter sei hart gewesen, erinnert sich Shekiba Mohammed.

Aus lauter Hoffnungslosigkeit versuchen sie, eine ihrer Töchter zu verkaufen: «Wenn wir genügend zu essen hätten, würden wir uns das niemals überlegen. Doch nun ist das die einzige Möglichkeit, um den Rest der Familie durchzubringen.»

Es kam so viel Unterstützung ins Land, doch sie erreichte nicht die Richtigen.
Autor: Agha Mohammed Bewohner von Arghandab

Agha Mohammed und Shekiba haben vier Mädchen und drei Jungen. Für ihre Armut macht Agha Muhammad nicht die Taliban verantwortlich. Sondern die korrupten Politiker der letzten 20 Jahre: «Es kam so viel Unterstützung ins Land, doch sie erreichte nicht die Richtigen. Hätte ich etwas Hilfe erhalten, dann müsste ich mir heute nicht überlegen, meine Tochter zu verkaufen!»

Die Entwicklung, die der Westen ganz Afghanistan bringen wollte, erreichte die ländlichen Regionen nicht. Dies vor allem wegen der weitläufigen Korruption unter den ehemaligen politischen Eliten. Dies schaffte unterschiedliche Realitäten auf dem Land und in der Stadt.

Taliban brachten der Landbevölkerung den Frieden

Während in den Städten die letzten 20 Jahre geprägt waren von persönlichen Freiheiten und wirtschaftlichem Aufschwung, war das Land geprägt vor allem von Krieg und Zerstörung.

Was für die Landbevölkerung im Süden Afghanistans nun zählt, ist, dass es keine Drohnenattacken mehr gibt und dass an Hochzeiten und Beerdigungen keine Bomben mehr hochgehen.

Morgenstimmung in Kabul.
Legende: Morgenstimmung in Kabul. Thomas Gutersohn

Das ist für sie der lang ersehnte Frieden. Frieden, den nun die Taliban gebracht haben.

International, 07.05.2022, 09:08 Uhr

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