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Dramatische humanitäre Lage UNRWA-Chef: «Die Bevölkerung von Gaza wurde ihrer Würde beraubt»

Kinder, die nach Wasser oder einem Stück Brot betteln – die Schilderungen aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen. Seit Kriegsbeginn mussten über 1.7 Millionen Menschen – fast 80 Prozent der Bevölkerung – ihr Zuhause verlassen. Das schreibt das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA. 14'000 Menschen seien getötet worden. Im Gespräch beschreibt UNRWA-Chef Philippe Lazzarini das humanitäre Elend im Gazastreifen.

Philippe Lazzarini

Generalkommissar UNRWA

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Der schweizerisch-italienische Diplomat Philippe Lazzarini wurde 2020 zum Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) ernannt. Für die UNO ist er seit 2003 im Einsatz. Er arbeitete unter anderem im Irak, in Angola, Somalia und den besetzten palästinensischen Gebieten.

SRF News: Hat sich die Situation der Bevölkerung des Gazastreifens während der Waffenruhe verbessert?

Philippe Lazzarini: Die Bedingungen haben sich nicht grundsätzlich verbessert. Die Bewohner des Gazastreifens freuen sich darüber, dass erstmals seit Kriegsbeginn keine Bomben mehr fallen. Am Montag waren offenbar viele Kinder auf den Strassen. Und wir hatten während der Waffenruhe die Gelegenheit, Hilfsgüter in die verschiedenen UNRWA-Unterkünfte zu bringen. Als UNO-Organisation versorgen wir im Moment eine Million Menschen. Die Situation ist verzweifelt.

Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, sie fühlten sich vollkommen machtlos, verarmt, gedemütigt.

Ich war vergangene Woche selber im Gazastreifen und habe dort eine Schule besucht, in der wir zurzeit 35'000 Personen beherbergen. Es fehlt den Menschen an allem, sie haben alles verloren, mussten alles zurücklassen. Sie haben ihre Häuser und Wohnungen verloren, haben Verwandte verloren. Sie besitzen nicht einmal mehr eine Decke oder eine Matratze. Seit Kriegsbeginn tragen sie dieselben Kleider. Die hygienischen Bedingungen sind absolut bemitleidenswert. Sie müssen stundenlang warten, um auf die Toilette gehen zu können.

Vertriebene Menschen im südlichen Gazastreifen
Legende: «Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, sind immer wieder in Tränen ausgebrochen», sagt UNRWA-Chef Philippe Lazzarini. «Sie haben gesagt, sie fühlten sich vollkommen machtlos, verarmt, gedemütigt. Sie haben den Eindruck, dass man ihnen ihre Würde genommen hat.» Keystone/EPA/HAITHAM IMAD

Das heisst, die Hilfe, die während des Waffenstillstands verteilt werden kann, ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein?

Es war ein wichtiges Zeichen, weil wir auch Treibstoff liefern konnten. Dieser Treibstoff wird derzeit an Wasserpumpwerke, Bäckereien und Spitäler verteilt, aber auch an die Notunterkünfte, wo die Menschen jetzt wieder Generatoren betreiben und Wasser brauchen können.

Diese Hilfe hatte also durchaus eine Auswirkung, aber die Bedürfnisse sind so gross, dass es mehr als drei, vier Tage Feuerpause braucht, um eine tatsächliche Verbesserung der Situation im Gazastreifen erwirken zu können.

108 Mitarbeitende der UNRWA getötet

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Zerstörter Gebäude in Gaza-Stadt
Legende: Zerstörte Gebäude in Gaza-Stadt. Keystone/AP/MOHAMMED HAJJAR

Die UNRWA hat im Gazastreifen etwa 13'000 Angestellte. 108 von ihnen sind seit Kriegsbeginn bereits getötet worden. «Die Zahl getöteter Mitarbeitender hat die Organisation mit voller Wucht getroffen. Sie erlebt genau das gleiche wie die restliche Bevölkerung», sagt UNRWA-Chef Philippe Lazzarini. Auch die Mitarbeitenden des UNO-Hilfswerks seien vertrieben worden und müssten täglich darum kämpfen, Wasser und Brot aufzutreiben. «Vor der Waffenruhe mussten sie sich jeden Tag die Frage stellen, ob sie am Ende ihres Arbeitstages ihre Kinder zuhause vorfinden würden oder nicht.»

Schon vor dem Krieg haben Sie gesagt, die UNRWA sei unterfinanziert. Der Krieg hat die Situation noch verschlimmert. Unlängst haben Sie die Befürchtung geäussert, dass die Welt die palästinensischen Flüchtlinge im Stich lässt. Was erwarten Sie nun von der internationalen Gemeinschaft?

Es stimmt, dass die UNRWA bereits in einer nie dagewesenen finanziellen Krise steckte. Das begann vor zehn Jahren, als die Bedeutung des israelisch-palästinensischen Konflikts von der internationalen Gemeinschaft zurückgestuft wurde. Bei Kriegsbeginn haben wir als Erstes die Massaker der Hamas in Israel vom 7. Oktober mit Nachdruck verurteilt. Die Massaker haben zur Ermordung von 1200 Personen und der Entführung von gegen 250 Personen geführt.

Innerhalb von 45 Tagen wurden gegen 14'000 Personen getötet, unter ihnen sind 10'000 Frauen und Kinder. Das ist mehr als die Zahl getöteter Zivilisten im Ukrainekrieg in fast zwei Jahren.

Danach habe ich meine Befürchtung geäussert, dass die Empathie der internationalen Gemeinschaft das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge in Gaza nicht mit einschliesst. Innerhalb von 45 Tagen wurden gegen 14'000 Personen getötet, unter ihnen sind 10'000 Frauen und Kinder. Das ist mehr als die Zahl getöteter Zivilisten im Ukrainekrieg in fast zwei Jahren. Ich erwarte von der internationalen Gemeinschaft, dass sie versucht, diese Feuerpause zu verlängern und in einen richtigen humanitären Waffenstillstand umzuwandeln, damit die Zivilbevölkerung beschützt und versorgt werden kann.

Zweigt die Hamas Hilfe der UNRWA ab?

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Einige westliche Staaten befürchten, dass auch die Hamas von den Hilfslieferungen an die UNRWA profitiert. Philippe Lazzarini versichert, dass keine der UNRWA-Hilfsgüter abgezweigt werden: «Wir arbeiten ohne Zwischenhändler. Ausserdem koordinieren wir die Verteilung von Hilfsgütern und unsere Bewegungen im Gazastreifen tagtäglich mit den israelischen Militärbehörden. Wir geben auch präzis Auskunft darüber, wohin wir Benzin liefern, zu welcher Wasserpumpe, zu welchem Spital, zu welcher Bäckerei, zu welcher Unterkunft.» Es werde auch sichergestellt, dass Verkäufer, die mit der UNRWA zusammenarbeiten, nicht auf einer Sanktionsliste der Geldgeberländer stehen. «Wir sind also sehr transparent. Und: Wir werden konstant überprüft – keine UNO-Organisation wird so genau überprüft wie wir», sagt Lazzarini.

Allerdings: Die Hamas kontrolliert den Gazastreifen. Dazu sagt der UNRWA-Chef: «Wir haben null Kontakt mit dem militärischen Flügel der Hamas. Auf politischer Ebene haben wir keine Kontakte, aber im technischen Bereich sprechen wir uns täglich mit Beamten im Gazastreifen ab, etwa bei der Einreise über die Grenzübergänge.» Diese Beamten stünden teilweise auf der Lohnliste der Palästinensischen Autonomiebehörde, teilweise auf derjenigen der Hamas. «Diese Koordination stellt sicher, dass wir unsere Hilfe auch tatsächlich an den richtigen Ort liefern können. Diese Kontakte sind auch allen bekannt, natürlich auch den israelischen Behörden», schliesst Lazzarini.

Sie haben schon viele Konfliktsituationen miterlebt. Mir scheint, die Situation in Gaza geht Ihnen besonders nahe. Stimmt dieser Eindruck?

Tatsächlich berührt mich die Situation enorm. Ich kenne die Bevölkerung des Gazastreifens seit dreissig Jahren. Es war mal eine vibrierende Zivilgesellschaft. Die Menschen in Gaza sind Menschen wie Sie und ich. Sie wünschen sich ein normales Leben, sie träumen von einer Karriere, von einer Familie. Was mich besonders schockiert hat: Innert kürzester Zeit wurde eine ganze Bevölkerung ihrer Würde beraubt. Das ist besonders bewegend, wenn Sie eine Schule besuchen. Die Kinder, die normalerweise dort sind zum Lernen, sind jetzt zu Bettlern degradiert, die um Wasser und Brot flehen. Man sieht die Traurigkeit in ihren Augen. Es stimmt: Das ist ausserordentlich bewegend.

Das Gespräch führte Brigitte Kramer.

Echo der Zeit, 28.11.2023, 18 Uhr ; 

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