Kurt Bardella muss sich gar nicht erst warm reden: «Für mich war der Sturm aufs Kapitol ein einheimischer Terrorangriff auf amerikanischem Boden, gerichtet gegen eines der fundamentalen Symbole der USA.» Die Bilder, wie aufgeheizte Anhänger des an seinem Amt festklammernden Präsidenten Donald Trump am 6. Januar vor einem Jahr das Kapitol stürmen, sind in den USA omnipräsent in diesen Tagen. Die Anhänger wollten die Zertifizierung des Wahlsiegers Joe Biden verhindern. Fast täglich dringen neue Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses des Repräsentantenhauses an die Öffentlichkeit.
Immer klarer wird das Bild von gezielten Absprachen, bewussten Unterlassungen und Planskizzen des abgewählten Präsidenten und seiner Entourage, die Wahlniederlage nicht anzuerkennen und die Übergabe der Macht an den gewählten Nachfolger Biden zu unterbinden. «Unsere Nation gründete bis zu diesem Tag auf der Annahme der friedlichen Machtübergabe. Dieser Auffassung wurde am 6. Januar vor einem Jahr vielleicht nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt», sagt Bardella.
Kurt Bardella ist ein Politprofi wie aus einer dieser berühmten US-Serien. Ein smarter, junger Typ mit koreanischem Hintergrund, italienischem Nach- und deutschem Vornamen - und vor allem mit einer republikanischen Vergangenheit. Bardella beriet republikanische Abgeordnete und Senatoren und wirkte für die republikanische Partei in einem Ausschuss im Kongress mit. Bis er es nicht mehr aushielt in der «Grand Old Party» und die Seiten wechselte.
Was in unserem Land seit dem 6. Januar vor einem Jahr geschieht, ist noch viel gefährlicher als der Sturm aufs Kapitol.
Seitdem sitzt er im zentralen Wahlausschuss der Demokraten, tritt fast täglich in den Nachrichtenshows der amerikanischen Networks von MSNBC und NBC News auf. Er fürchtet sich vor dem, was kommen könnte: «Was in unserem Land seit dem 6. Januar vor einem Jahr geschieht, ist in meinen Augen noch viel gefährlicher als der Sturm aufs Kapitol.»
Die versuchte Umdeutung
Bardella schiebt seine Brille zurecht: «Die vorherrschenden Kräfte in der republikanischen Partei versuchen das, was an jenem Tag geschah, umzudeuten. Sie versuchen, die Geschichte neu zu erzählen. Und sie versuchen, die Angreifer, die das Kapitol stürmten, als Patrioten darzustellen.»
Und dies, obwohl die Untersuchungskommission des Repräsentantenhauses immer mehr Fakten zusammenträgt und seine Untersuchung immer stärker direkt auf den Ex-Präsidenten und seine engste Entourage zu fokussieren scheint.
Der damalige Stabschef von Donald Trump, Mark Meadows, übergab dem Ausschuss – der von den Republikanern abgelehnt wird – einen Fundus von E-Mails, Kurznachrichten und anderer Daten, bevor er sich darauf berief, als Teil der Regierung nicht aussagen zu müssen und seine Kooperation einstellte. Doch in den Unterlagen stiessen die Fahnder unter anderem auf eine 38-seitige Powerpoint-Präsentation mit Optionen, wie die Amtsübergabe an Joe Biden verhindert werden könnte.
Dazu befand sich in dem Datenschatz eine Vielzahl von Kurznachrichten, die beweisen, dass das Weisse Haus während der dramatischen Stunden im Kapitol genau wusste, was dort geschah. Und dass das Weisse Haus es trotz dieses Wissens unterliess, auf den entfesselten Mob einzuwirken.
Der Glaube an «die grosse Lüge»
Doch viele Amerikanerinnen und Amerikaner halten von diesen Erkenntnissen wenig bis gar nichts. 68 Prozent der Republikaner glauben weiterhin an die längst widerlegte Lüge von der «gestohlenen Wahl». Für sie ist Joe Biden ein illegitimer Präsident.
Auf diesem Nährboden wurden im letzten Jahr in 19 von der Republikanischen Partei dominierten Bundesstaaten Gesetze durchgedrückt, welche die Wahlrechte von bestimmten Bevölkerungsschichten deutlich einschränken. An anderen Stellen greifen Trump-Anhänger auf allen Ebenen von der Gemeinde bis zum Bundesstaat nach jenen Posten, welche die Durchführung oder Zertifizierung von Wahlen beaufsichtigen. «Nach einem Ereignis wie dem 6. Januar 2021 würde man annehmen, dass die Leute begreifen: Wir müssen den Fuss vom Gaspedal nehmen», schüttelt Kurt Bardella den Kopf. «Doch das Gegenteil geschieht: Trumps Republikaner geben erst recht Gas und steuern uns auf eine Wiederholung des 6. Januar zu.»
Wenn wir diese Aufarbeitung nicht vor den nächsten Wahlen beenden, wird sie nie beendet werden.
Mehrere Umfragen grosser Medienhäuser förderten kurz vor dem ersten Jahrestag des Kapitolsturms verstörende Ergebnisse zutage. So betrachten gemäss einer Umfrage der «Washington Post» vier von zehn Republikanern oder sich als «unabhängig» bezeichnende Amerikanerinnen und Amerikanern den Gebrauch von Gewalt gegenüber der Regierung als «zu gewissen Zeiten gerechtfertigt».
Und eine Umfrage des Fernsehsenders CBS kommt zum Ergebnis, dass jede und jeder Fünfte von Trumps Wählerinnen und Wählern von 2020 dafür ist, dass Trump nicht bis zu den Wahlen 2024 warten sollte, sondern dass er schon heute dafür kämpfen sollte, die Präsidentschaft zurückzugewinnen. Manche befürworten dazu gar den Einsatz von Gewaltmitteln.
Das mangelhafte Rechtssystem
Ein zentrales Problem bei der Aufarbeitung des 6. Januar ist, dass der Rechtsstaat nicht gegen eine solche Herausforderung gerüstet ist: «Unsere Justiz ist nicht darauf ausgelegt, schnell zu sein. Angeklagte haben Rechte, und die Beanspruchung dieser Rechte durch verschiedene Instanzen ist ein langer Prozess.» Kurt Bardella seufzt. Denn es ist offensichtlich, dass zentrale Figuren vom 6. Januar versuchen, die Untersuchung einfach auszusitzen.
Videogalerie
Ehemalige enge Berater von Donald Trump wie Steve Bannon oder Trumps Stabschef Meadows weigern sich, den Vorladungen des Untersuchungsausschusses Folge zu leisten. Dafür werden sie von diesem zwar angeklagt, aber bis sie vor Gericht erscheinen müssen, befinden sich die USA schon längst im nächsten Wahlkampf. Und wenn die Republikaner wie allseits erwartet im kommenden Herbst in den Zwischenwahlen einen grossen Sieg einfahren und das Repräsentantenhaus wie den Senat in ihre Gewalt bringen, so das Kalkül von Bannon oder Meadows, wird der Untersuchungsausschuss zum 6. Januar sofort aufgelöst werden. «Sie werden alles, was bis dann zutage gefördert sein wird, ausradieren. Wenn wir diese Aufarbeitung nicht vor den nächsten Wahlen beenden, wird sie nie beendet werden.» Für Kurt Bardella ist das eine sehr gefährliche Vorstellung.
Was macht Trump?
Der abgewählte Donald Trump verhält sich derweil so, als sei er immer noch Präsident. Gleichzeitig tönt er an, dass er bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 wieder antreten wird. Seine Organisationen verschicken täglich mehrere E-Mails, in denen sie zu Spenden aufrufen. Der Tonfall variiert von kumpelhaft («hey, my friend…») bis fordernd («did you see my previous message…?»).
Zum Jahrestag des 6. Januar wollte Trump eigentlich in seiner Residenz Mar-a-Lago im Rentnerparadies Florida einen eigenen Auftritt abhalten. Gemäss dem Skript, das in der Ankündigung des Events dargelegt wurde, wollte Trump die Geschehnisse jenes Tages erneut schönreden, die längst widerlegte Lüge von der gestohlenen Wahl wiederholen und seinen Anteil an den Geschehnissen des 6. Januar verteidigen.
Zwei Tage vor dem 6. Januar hat Trump seinen Auftritt abgesagt. Weil «der nicht-gewählte Untersuchungsausschuss der Demokraten, zwei Republikaner und die Fake-News-Medien» befangen und voreingenommen» seien, so Trump.
Er kündigt gleichzeitig seinen nächsten Auftritt an: Nun will Trump in zehn Tagen in Arizona den Startschuss geben zum Zwischenwahljahr, mit ihm als Dreh- und Angelpunkt der Republikanischen Partei. Eine Tatsache, die nach den Ereignissen am 6. Januar vor einem Jahr viele selbst innerhalb der Republikanischen Partei kaum für möglich gehalten hätten.