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Ruanda 30 Jahre nach dem Genozid
Aus 10 vor 10 vom 04.04.2024.
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Ein kollektives Trauma Ruanda – 30 Jahre nach dem Genozid

Ruanda, auch bekannt als die Schweiz Afrikas, gilt heute als Erfolgsgeschichte. Es hat sich zu einem Wirtschaftshub entwickelt und hat hohe Wachstumsraten. Das kollektive Trauma des Genozids ist allerdings nicht verschwunden, doch versucht die junge Generation, darüber hinauszuwachsen.

Er singt sich im Garten der Genozidgedenkstätte in Kigali, Ruandas Hauptstadt, die Seele aus dem Leib. Blaise Rwamukwaya hat das Lied selbst komponiert. Es handelt von Versöhnung und jenen, die im Genozid gegen die Tutsi ihr Leben verloren haben. Das sind rund 800’000, und 250’000 von ihnen sind in dem Hügel begraben, auf dem sich die Gedenkstätte befindet. «Dies ist ein extrem wichtiger Ort für mich», sagt Blaise mit leiser Stimme. «Hier ist mein Vater. Mein Vater ist hier ehrenvoll begraben.»

Blaise Rwamukwaya ist einer von 80’000 Waisen, die während des Genozids im April 1994 ihre Eltern verloren haben. Sein Vater wurde brutal umgebracht, seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt an einer Krankheit. Viele dieser Waisen sind vom Staat unterstützt worden, so auch der heute 30-Jährige. Er wuchs in einer Pflegefamilie auf, konnte gratis die Schule besuchen und kostenlos studieren.

Doppelt so hart arbeiten wie andere afrikanische Länder

Dank seiner ausdrucksvollen Stimme ist er ein begehrter Coversänger und verdient mit seinen Auftritten in Luxusrestaurants oder privaten Anlässen so viel, dass er sich bereits ein Geschäftshaus kaufen und untervermieten konnte. 

Er verdient genug, um in einem ruhigen Aussenbezirk von Kigali ein grosses, modernes Haus zu mieten. Dort, auf der cremefarbenen Couch, hinter sich ein grosses Gemälde von seiner Hochzeit, erklärt er, dass er sich schon von früh auf geweigert habe, als Waise wahrgenommen zu werden. «Ich als Waise kann auch erreichen, was andere erreichen können, deren Eltern leben. Das treibt mich immer an und darum arbeite ich auch so hart.»

In Ruanda hat man den Eindruck, dass alle hart arbeiten. Es ist wohl das einzige Land in Afrika, wo es keine Bettler gibt und die Strassen beinah makellos sauber sind. Die Hauptstadt Kigali scheint geradezu zu vibrieren von Aktivitäten. Sie gilt als Technologie-Hub Ostafrikas. Ein futuristisches halbrundes Gebäude, das in der Nacht in Regenbogenfarben schillert, ist eines der modernsten Konferenzzentren in der Region, und überall werden Bürogebäude in die Höhe gezogen.

Den Eindruck einer allgegenwärtigen Emsigkeit bestätigt Oscar Tswiserimans, der für die Genozidgedenkstätte arbeitet. Er erklärt, dass die Menschen in Ruanda nicht langsam oder gar träge sein dürften. Während sich andere Länder gemächlich entwickelten, müsse Ruanda schnell sein. «Der Grund dafür ist der Genozid. Er hat unser Land in jeder Hinsicht zerstört. Wir mussten bei null anfangen, wirtschaftlich und vor allem auch menschlich.»

Verzeihen, aber nicht vergessen

Es gelte bis heute zu verzeihen, aber nicht zu vergessen. Das sei auch das Ziel der Genozidgedenkstätte, sagt der ausgebildete Psychologe. Sie wird täglich von Hunderten von Touristinnen, aber auch Einheimischen besucht. Die Aufgabe des Psychologen ist es, die Besucher in emotional schwierigen Momenten zu betreuen.

Videobotschaften von Überlebenden, Fotos von hunderten verstümmelten Leichen auf einem Feld oder vor einer Hütte, eine Reihe von blanken Schädeln, die einen aus ihren Augenhöhlen anklagen – niemand verlässt die Gedenkstätte unberührt.

«Wir wollen aber nicht erneuten Hass schüren, wir arbeiten an der Einheit von Ruanda, nur so kommen wir weiter,» betont Oscar Tswiserimans. Die Gedenkstätte sei enorm wichtig für die Hinterbliebenen, denn gerade viele unter der jungen Generation wüssten bis heute nicht, was wirklich geschehen sei. Wer den Genozid erlebt habe, könne bis heute oft nicht darüber reden. «Wie findet man Worte, um eine solche Grausamkeit zu beschreiben? Wie erklärt eine Mutter ihren Kindern, dass sie mehrfach vergewaltigt worden ist? Es gibt dafür keine Worte.»

«Ich wollte es verstehen, doch verstehe es bis heute nicht»

Blaise Rwamukwaya hat nicht nur seine Eltern, sondern beinahe die gesamte Familie verloren. Die Schwester seines Vaters überlebte wie durch ein Wunder. Er besucht sie oft in ihrem Haus auf dem Land, eine Autostunde von Kigali entfernt. Von den tausend Hügeln, wofür Ruanda so berühmt ist, ist nicht viel zu sehen. Sie sind im Nebel nur als Konturen erkennbar.

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Blaise: «Ich wollte nicht als Waisenkind wahrgenommen werden»
Aus News-Clip vom 02.04.2024.
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Die Tante von Blaise verliest im Hinterhof Erbsen, während sich im Nu ein angeregtes Gespräch entwickelt. Als er auf die Zeit des Genozids zu sprechen kommt, weicht ihre Fröhlichkeit einer Art sanften Trauer. Sie hat ihm oft davon erzählt, auch ihren Kindern. «Sie wollten wissen, wo ihre Grosseltern sind, was geschehen ist. Es schmerzt jedes Mal darüber zu reden, doch muss die nächste Generation Bescheid wissen», erklärt sie mit Überzeugung.

Ihr Neffe nickt. Er habe alles wissen wollen, er habe sie immer wieder gefragt. «Ich wollte verstehen. Verstehen, warum man jemanden enthauptet. Warum man einen Menschen tötet. Nur wer das begreift, versteht die tiefliegende Ursache und kann verhindern, dass so etwas wieder passiert.» Auf die Frage, ob er denn verstehen könne, schweigt er lange. «Nein», antwortet er schliesslich, «wenn ich ehrlich bin, verstehe ich es bis heute nicht.»

Spielen, um Brücken zu schlagen

Als wir wieder in Kigali sind, scheint er wie ausgewechselt, munter und voller Tatendrang. Es ist bereits dunkel, als er seine Spielarkade besucht, die er vor einigen Monaten im Stadtzentrum eröffnet hat. Die Tische im Hof sind alle besetzt. Die einen spielen Schach, andere Halma mit Flaschendeckeln, und im grossen Raum drinnen versuchen sich junge Männer im Billardspiel oder tauchen ins virtuelle Gaming ein.

Die Stimmung ist entspannt, und genau dies ist das Ziel von Blaise Rwamukwaya. So gut die Spielarkade seit der Eröffnung läuft, so ist der Verdienst nicht seine zentrale Motivation. Er will mit der Arkade junge Menschen in einem stressfreien Ambiente zusammenbringen. Die nationale Einheit, die in ganz Ruanda angestrebt wird, verwirklicht er auf seine Weise in kleinem Rahmen. «Es ist eine Tatsache, dass Spiele Menschen verbinden. Ich weiss nicht, welche Ethnien bei mir ein- und ausgehen, und ich muss es auch nicht wissen. Wir sind glücklich, warum also sollten wir es wissen wollen?»

So einfach ist es wahrscheinlich nicht, eine so tiefverwurzelte schwierige Geschichte zweier Ethnien zum Verschwinden zu bringen. Doch ist es bestimmt einer von vielen kleinen Schritten Richtung Versöhnung.

Der Genozid in Ruanda und seine Folgen bis heute

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Der Konflikt zwischen den beiden Ethnien Ruandas, den Hutu und den Tutsi, geht auf die vorkoloniale Zeit zurück. Ende des 19. Jahrhunderts war Ruanda ein Tutsi-Königreich, in dem die Hutu benachteiligt wurden. Unter der deutschen und dann der belgischen Kolonialmacht wurden die Tutsi, obwohl sie eine Minderheit waren, den Hutu gegenüber bevorzugt, weil sie eher dem europäischen Rassenideal entsprachen. Doch 1959 rebellierten die Hutu gegen die Belgier, übernahmen die Regierung und zwangen rund 150’000 Tutsi, das Land zu verlassen.

Diese jedoch formierten sich neu und griffen Ruanda immer wieder an. Das Fass zum Überlaufen brachte der Abschuss des Flugzeugs des damaligen Präsidenten am 6. April 1994. Viele waren überzeugt, die Tutsi-Rebellen unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame seien dafür verantwortlich – obwohl dies bis heute nicht erwiesen ist.

Einen Tag später, am 7. April 1994, übernahm ein Militärkommando in Ruanda die Kontrolle und befahl den Hutu-Milizen, Tutsi und moderate Hutu zu töten. Aufgehetzt durchs Radio, begann im ganzen Land ein systematisches Gemetzel. Erst hundert Tage später, als die von Kagame angeführte Ruandische Patriotische Front die Hauptstadt Kigali eingenommen hatte, hörte das Morden auf. Während des gesamten Genozids haben weder westliche Staaten noch die UNO eingegriffen, niemand wollte sich die Finger verbrennen.

Nach Ende des Genozids flohen rund zwei Millionen Hutu in die benachbarte Republik Kongo. Tausende von ihnen wurden in der Folge von ruandischen Truppen umgebracht. Der Konflikt wurde sozusagen ins Nachbarland exportiert. Dort herrscht im Osten bis heute ständig Krieg. Aktuell wird Ruanda beschuldigt, die M23-Milizen im Ostkongo militärisch zu unterstützen. Es besteht einmal mehr die Gefahr, dass der Konflikt sich über die Grenzen ausbreitet. Sogar der UNO-Sicherheitsrat zeigte sich darüber besorgt, doch Paul Kagame streitet eine Einmischung Ruandas ab.

10 vor 10, 4.04.2024, 21:50 Uhr;kobt

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