Lili Leignel, geborene Lili Keller Rosenberg, ist 11 Jahre alt, als die Feldgendarmerie im Oktober 1943 an die Türen hämmert. Sie lebt mit ihren Eltern und den zwei jüngeren Brüdern in der nordfranzösischen Stadt Roubaix. Noch heute erinnert sie sich genau an das Datum, am nächsten Tag wollte die Familie den Geburtstag der Mutter feiern: «Wir hatten alles vorbereitet, und Papa wollte einen Kuchen und Blumen für den grossen Tag kaufen.»
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Bild 1 von 2. Links André, der jüngste Bruder von Lili, einige Monate vor der Verhaftung. Rechts: Lili und ihr jüngerer Bruder Robert ungefähr 1938. Bildquelle: Lili Leignel.
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Bild 2 von 2. Lili (links) mit ihren Brüdern und einer Cousine, kurz vor der Verhaftung. Die meisten Fotos der jüdischen Familie wurden zerstört oder sind nicht mehr auffindbar. Bildquelle: Lili Leignel.
Mit der Mutter und den zwei Brüdern wird sie nach Ravensbrück deportiert, in eines der grössten Frauenkonzentrationslager. Der Vater nach Buchenwald.
Kindheit im Konzentrationslager
Es beginnt ein Alltag aus Hunger, Kälte und Angst: «Die Nazis patrouillierten ständig in den Gängen, immer mit ihren Hunden. Heute noch habe ich Angst vor ihnen.»
Wie viele andere Konzentrationslager ist Ravensbrück überfüllt, es fehlt an Essen und Wasser. Damit sich die Kinder trotzdem waschen können, weckt die Mutter sie jeden Tag eine halbe Stunde vor den Wecksirenen.
Der Geruch von Bergen-Belsen
Anfang 1945 wird die Familie in das KZ Bergen-Belsen verlegt. Schon bevor sie dort ankam, habe sie es gerochen, erinnert sich die 93-Jährige. Der Gestank kommt von den Leichen, die unter freiem Himmel verbrannt werden.
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Bild 1 von 3. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen im April 1945, zehn Tage nach der Befreiung. Die Menschen sind stark unterernährt. Bildquelle: IMAGO / piemags.
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Bild 2 von 3. Die Briten fanden 55'000 noch lebende Häftlinge vor. 13'000 starben nach der Befreiung. Viele waren an Typhus und Fleckfieber erkrankt. Bildquelle: IMAGO / Reinhard Schultz.
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Bild 3 von 3. Nach der Befreiung: Die Häftlinge essen ihre erste Mahlzeit. Bildquelle: IMAGO / piemags.
Die Situation in Bergen-Belsen ist prekär und verschlimmert sich mit dem Ausbruch einer Typhus- und Fleckfieberepidemie. «Überall lagen Leichen. Um gehen zu können, mussten wir über die Körper steigen.»
Zwei Wochen länger in diesem Lager, und wir hätten es nicht überlebt.
Am 15. April 1945 befreien britische Truppen das Lager. Von den rund 120'000 Menschen, die nach Bergen-Belsen deportiert wurden, starben mindestens 52'000. Lili Leignel ist sich sicher: «Zwei Wochen länger in diesem Lager, und wir hätten es nicht überlebt.» Denn ihre Mutter ist kurz vor der Befreiung an Typhus erkrankt.
Reden als Reaktion auf Holocaust-Leugner
Lili kehrt mit ihren Brüdern und ihrer Mutter nach Nordfrankreich zurück. Dort erfahren sie, dass ihr Vater im KZ Buchenwald gestorben ist. Für die Familie und für Lili sind die Jahre nach Kriegsende schwer. Nicht nur, weil sie nun Halbwaise ist, sie ist auch traumatisiert.
Trotz der Trauer um ihren Vater und dem Schrecken des Holocausts beendet sie die Schule, findet eine Arbeit, heiratet und wird Mutter. Doch über den Holocaust schweigt sie. Sie will die Familie nicht belasten.
Was für eine schreckliche Lüge, das muss ich richtigstellen.
Vor über 40 Jahren bricht sie ihr Schweigen, aus Empörung über die Holocaust-Leugner: «Sie behaupteten, es habe keine Gaskammern gegeben, es sei alles nicht so schlimm gewesen. Ich dachte, was für eine schreckliche Lüge, das muss ich richtigstellen.» So beginnt Lili Leignel – anfangs noch zögerlich – öffentlich über ihre Erlebnisse zu berichten.
Kampf gegen das Vergessen
Mit 93 Jahren hat sie eine volle Agenda. Fast täglich erzählt sie mit ruhiger Stimme ihre Geschichte. Angesichts der aktuellen Weltlage und in einer Zeit, in der es immer weniger Überlebende gibt, sei das Erinnern wichtiger denn je: «Alles, was wir erlebt haben, muss als Lehre dienen, damit so etwas nie wieder passiert. Um Krieg, Hass, Rassismus oder Antisemitismus zu verhindern, dürfen wir nicht aufhören, darüber sprechen.»
Sie spricht vor allem vor Schulklassen. Junge Menschen seien das beste Publikum, sagt sie lächelnd: Sie seien die Zukunft und könnten die Erinnerungsarbeit weiterführen.
Ans Aufhören denkt sie nicht – trotz des Alters: «Mindestens bis hundert, danach schauen wir weiter.»