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Engagement für freie Wahlen «Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor»

In Moskau erwarten Demonstranten für diesen Samstag ein hartes Durchgreifen der Polizei.

Die junge Frau rollt den Ärmel ihres Pullovers hoch und hält einen blauen Fleck am Oberarm in die Kamera. «Nein, verhaftet haben mich die Sondereinheiten am vergangenen Samstag nicht, aber geschlagen», erzählt sie während sie die Bewegung eines Schlagstockes gestikuliert. Ihren Namen möchte sie aus Vorsicht nicht nennen. Zusammen mit Bekannten demonstrierte sie diesen Donnerstag vor dem Amtssitz des Bürgermeisters von Moskau. Nacheinander hält das kleine Grüppchen Plakate in die Höhe für eine freie Wahl des Stadtparlaments.

Die Demonstranten kritisieren, dass die Behörden für die Wahl Anfang September systematisch Oppositionelle von den Wahllisten ausgeschlossen hätten. Die junge Frau schüttelt darüber den Kopf: «Die Behörden haben versucht auf dümmste Art und Weise die Wahlen zu fälschen. Ich kenne persönlich Leute, die für die Registrierung von unabhängigen Kandidaten unterschrieben haben. Die Wahlbehörden haben ihnen unterstellt: ‹Nein, das ist nicht ihre Unterschrift.›»

Keine Entspannung absehbar

Die Zulassung der Opposition zur Wahl wird diesen Samstag zum vierten Mal in Folge voraussichtlich mehrere tausend Menschen auf die Strassen Moskaus bewegen. Wie schon vergangenen Samstag fehlt der Grosskundgebung von heute die Zustimmung der Behörden. Opposition und Stadtverwaltung wurden sich über die Rahmenbedingungen nicht einig.

Sicherheitskräfte nehmen Mann fest
Legende: Am vergangenen Samstag war die Polizei hart gegen die Demonstranten vorgegangen. Reuters

Nach dem überraschend harten Durchgreifen am vergangenen Samstag scheinen die Fronten verhärtet. Rund 1400 Personen wurden festgenommen, mehr als 70 Demonstranten mussten mit Verletzungen ins Spital eingeliefert werden. Laut Medienberichten wurden für morgen Spezialkräfte der Polizei aus dem Umland von Moskau mobilisiert.

Provokation der Behörden

Noch vor einem Monat habe sich niemand für diese Wahlen interessiert, ist sich Anastasia Brjuchanowa sicher, doch die Reaktion der Behörden habe den Widerstand geradezu provoziert. Die 25-Jährige kandidiert für die liberale Partei Jabloko in einem Bezirk im Nordwesten von Moskau und wurde von der Wahl ausgeschlossen, weil sie angeblich zu wenige gültige Unterschriften für die Zulassung gesammelt hatte.

Doch dagegen will sich Brjuchanow wehren: «Wenn unsere Beschwerde von der Wahlbehörde objektiv untersucht wird, dann muss ich zur Wahl zugelassen werden.» Sie unterstützt die Forderung der Demonstranten, aber zu einer Teilnahme an der morgigen Demonstration könne sie nicht aufrufen: «Das Risiko ist hoch, dass die Leute festgenommen und geschlagen werden. Diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen.»

Wie gross die Gefahr für Oppositionspolitiker tatsächlich ist, zeigt sich an den Verfahren, die in der laufenden Woche durch die Behörden eingeleitet wurden. Fünf Vertretern der Opposition droht eine Anklage wegen der Organisation von Massenunruhen. Bei einem Schuldspruch stehen darauf mehrere Jahre Gefängnis.

Eine Hotline für Festgenommene

Rechtshilfe wird den Demonstranten kostenlos bei der Onlineplattform OWD-Info angeboten. Per Hotline und Chatbot können Demonstranten sich informieren, wie sie sich im Fall einer Festnahme am besten verhalten und bei einem Verfahren vor Gericht, vermittelt die Plattform Juristen. In den letzten Tagen hätten sie pausenlos gearbeitet, erzählt der Leiter, Grigoriy Durnowo. «Morgen werden mehrere Dutzend Leute bei uns im Einsatz sein, darunter viele ehrenamtlich. Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor – und hoffen auf das Beste.»

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